Dunja, das Streichelmädchen

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Dunja, das Streichelmädchen

Dunja, das Streichelmädchen

Anita Isiris

Chlamydien. Hepatitis A, B und C. Syphilis. Humanes Papillomavirus HPV. HIV (ja, leider auch).

Es sind diese – und zum Teil bis heute vollkommen unbekannte – Geschlechtskrankheiten, die Gonserdorf, das kleine 400-Seelen-Nest in einem schattigen Seitental, auf gerade mal 100 Einwohner hatte schrumpfen lassen. Tragischerweise waren es die Frauen gewesen, die viel zu früh das Zeitliche hatten segnen müssen. Tragisch auch deshalb, weil doch sie es gewesen waren, die Gonserdorf zum Leuchten, Duften und Klingen gebracht hatten. Zum Leuchten mit selbst gezogenen Kerzen, zum Duften mit selbst gebackenem Brot und selbst gebrautem Bier, zum Klingen mit hübschem, liebevoll ausgesuchtem Geschirr und Besteck.
400 Seelen. Allzu unvorsichtig waren die Männer mit den delikaten weibliche Ressourcen umgegangen, so, als seien sie unerschöpflich. Der Bäcker mit der Müllerin. Der Knecht mit der Gruberbäuerin. Die drei Dorfpolizisten mit der Sternenwirtin. Alle übers Kreuz, alle dann, wenn es passte, alle gedankenlos, die Männer schwanz- und die Frauen hormongesteuert.
Die Verantwortung für das schleichende Aussterben weiblicher Geschöpfe im Gonserdorf war keineswegs nur den Männern anzulasten. Die Frauen hatten bewusst ihre Lockenpracht spielen lassen, hatten den Männern ganz bewusst magische Einblicke in ihren Busen gegönnt, worunter man das Tal zwischen den beiden Hügeln versteht. Die Frauen hatten die Männer bewusst auch an ihre Scham gelassen, im Dachstock, im Steinbruch, im Weinkeller gar. Geilheit im Gonserdorf war ein ubiquitäres Phänomen, alle waren davon erfasst worden – auch die Tiere. Aber diese blieben, Gott sei Dank, unter sich.
So geschah es, dass am Ende des 20. Jahrhunderts nur Dunja überlebte. Dunja war gerade mal 18 Jahre alt und strahlte eine derartige Frische aus, dass die Vögel im Himmel hängen blieben, wenn sie ihrer gewahr wurden, den Wölfen das Heulen im Halse steckenblieb und die Kühe mehr Milch gaben – wenn sie Dunjas Stimme vernahmen.

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Dunja, das Streichelmädchen

schreibt Huldreich

Liebe Anita Isiris! Seit Jahren - seit ich Erozuna entdeckte - bin ich von Ihren Geschichten aus Höchste entzückt, auch die neueste wieder hinreißend, ich freue mich auf noch ganz ganz viele in ihrer unnachahmlichen Art und Weise. Liebe Grüsse Ulrich Hermann

Gedichte auf den Leib geschrieben