Karl bemerkte die Wesensänderung seiner jüngeren Schwester. Liesel hatte mit dem unbedarften Backfisch nichts mehr gemein, den er in Erinnerung hatte. Sie war eine junge Frau, die selbstbewusst auftrat. Dies tat sie auch im Beisein ihres Bruders, ja sogar vor Luise, ihrer Gouvernante. Die erfahrene Dame sollte Liesels Erwachsenwerden begleiten, bis ihr Schützling das 21. Lebensjahr vollendet hatte. Luise forderte die junge Frau auf, ihre Meinung zu vertreten. Dies tat sie auch Karl gegenüber, wobei Luise nicht vorlaut auftrat. Sie wusste, dass die Gouvernante ein Auge auf sie richtete und ein unverfrorenes Verhalten unweigerlich Konsequenzen nach sich ziehen würde. Dazu gab es auch keinen Anlass, da Liesel frisch verliebt war. Konrad war nur zwei Jahre jünger als Liesels Bruder Karl. Dieser geringe Altersunterschied musste dazu beitragen, dass Karl ihn mit Argusaugen beobachtete, wenn er auf seine Schwester traf. Die Gouvernante hatte Karl berichtet, dass sie Liesel verwarnen musste, weil sie ein heimliches Treffen mit Konrad verschwiegen hatte. Nähere Details ließ sie aus, da sie Karl nicht beunruhigen wollte. Karl sah sich auf gewisse Weise als Erziehungsberechtigten seiner Schwester, da ihr Vater alt und von Krankheit gezeichnet war. Er wusste, dass Fräulein Luise mit gütiger Strenge über Liesel wachte, aber in manchen Dingen glaubte er sich ihr überlegen zu sein. „Das Weib ist schwach, wenn es um Herzensangelegenheiten geht!“, pflegte sein alter Herr zu sagen. „Ein Mann lässt sich selten von romantischem Geplänkel blenden und er sieht die Dinge, wie sie wirklich sind!“ Diesem Grundsatz folgte auch Karl, der Liesels Liaison mit Konrad missbilligend zur Kenntnis nahm. Seine diesbezügliche Skepsis verstärkte sich an einem warmen Sommertag. Fräulein Luise schlug ein spontanes Picknick im nahen Wäldchen vor, zu dem neben ihr selbst und Karl auch Liesel und Konrad eingeladen waren.
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