Einen Moment blieb sie liegen, als hoffte sie, die Müdigkeit könne sie noch ein wenig festhalten und vor der Realität schützen. Doch schließlich zwang sie sich hoch, schwankte leicht und schlurfte benommen ins Wohnzimmer.
Dort erstarrte sie.
Das Aquarium.
Der Riss, der gestern kaum sichtbar gewesen war, hatte sich über Nacht durch die gesamte Scheibe gefressen. Fast das gesamte Wasser war ausgelaufen.
„Oh nein …“
Sophie stürzte nach vorn. Das Becken stand in einer breiten, getrockneten Pfütze, auf dem Boden lagen die meisten Fischkörper reglos verstreut. Nur wenige wanden sich noch in einer kleinen Wasserlache, kämpften verzweifelt um ihr Leben.
Mit brennenden Augen holte sie einen Behälter, füllte ihn hastig mit Wasser und setzte die letzten Überlebenden hinein. Es war pure Notrettung – das Wasser hatte die falsche Temperatur, die Tiere waren geschwächt. Doch sie konnte sie unmöglich einfach sterben lassen.
Danach begann sie, das ausgelaufene Wasser aufzuwischen, während sich der Kloß in ihrem Hals immer weiter zuschnürte. Das rissige Aquarium wirkte wie ein Symbol ihres Lebens: Über Nacht geplatzt, übergelaufen, verwahrlost. Und sie selbst stand mittendrin, ohne zu wissen, wo sie anfangen sollte.
Die guten Vorsätze vom Vortag – Leonie anzurufen, zu lernen, aufzuräumen – lösten sich auf wie Staub. Stattdessen floh sie zu ihren Pferden. Nur dort fühlte sie etwas, das an Ruhe erinnerte.
Doch die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten.
Als die nächste Klassenarbeit zurückgegeben wurde, hielt der Lehrer einen Moment inne, bevor er ihr das Blatt hinhielt. Seine Stimme war trocken.
„Da haben wir wohl die Prioritäten falsch gesetzt.“
Eine rote „6“ prangte auf dem Papier.
Ein Raunen ging durch die Klasse. Sophie, die sonst nur Einsen und Zweien schrieb, senkte den Blick.
Ein Vierer der Ekstase
Sophie von Wolfenstein - Teil 3
13 23-35 Minuten 0 Kommentare
Ein Vierer der Ekstase
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