Lucs kompensierte die Unart seiner direkten Blicke mit einer fröhlich-unverbindlichen Art, mit der er Flurina bereits am Strand für sich eingenommen hatte. “Les stylos dans ta pochette sont très impressionnants”, sagte er, “tu as l`air de ne pas t`ennuyer. Tu travailles beaucoup”, fügte er anerkennend an und stellte ihr seinen Kollegen, Marc, vor. Er war Deutscher und lebte normalerweise in Griechenland. Für diesen Sommer hatte es ihn aber nach Südfrankreich verschlagen. Er wollte da Erfahrungen auf einer Inneren Medizin sammeln und gleichzeitig sein Französisch aufpolieren. Flurina lief es heiss und kalt den Rücken hinunter. Sie wusste, dass Luc das Thema gleich anschneiden würde und wünschte sich das auch. Andererseits wollte sie den Moment hinauszögern, so lange es ging – den Moment, in dem sie zum “en brochette”-Thema würde Stellung beziehen müssen. Flurina war kein Kind von Traurigkeit und eine Frau, die den Augenblick geniessen konnte. Gerade so gut war sie aber im Stande, Risiken abzuwägen und gelegentlich einen Vernunftsentscheid über ihre Gefühle zu stellen. In diesem Fall nahmen aber die Gefühle überhand. Die Krankenschwester baute den beiden Assistenzärzten eine Brücke. “Ich habe den Schlüssel zum Behandlungsraum der Physiotherapeuten”, sagte sie, verschluckte sich dabei und lief rot an. “Keep cool”, sagte Luc. Übergib Deine Patienten dem Nachtdienst. Wir erwarten Dich um 23:00 Uhr in Raum 302. Ohne ein weiteres Wort drehten sich die beiden Männer um und verliessen das Stationszimmer. Flurina blickte ihnen nach und musste sich sehr gut konzentrieren, um die richtigen Vitalwerte bei den richtigen Patienten einzuschreiben und die Verordnungen korrekt zu übertragen. In einer halben Stunde würde es also so weit sein. Sie würde sich den beiden Ärzten im Behandlungsraum hingeben. En brochette. Das 300-Betten-Haus war nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut und seither immer wieder modernisiert worden. Das führte zu einer Unübersichtlichkeit, die mit den Jahren zunahm – nur Mitarbeiter, die hier während Jahrzehnten ihren Dienst verrichteten, hätten behaupten können, praktisch jeden Winkel zu kennen. Neue Studenten, Reinigungsfrauen, aber auch Professoren waren von der Weitläufigkeit der Gebäude beeindruckt, durch die vielen Seitentreppen, Nebenräumen und frisch gestrichenen Korridoren jedoch überfordert. Liselotte, eine gelbgesichtige Dauernachtwache, übernahm den Dienst. Anscheinend hatten die vielen durchschlafenen Tage und durchgearbeiteten Nächte ihre Gesundheit nachhaltig zerstört. Sie klagte auch über Nierenprobleme, Kreislaufstörungen und verschlechtertes Sehvermögen. Flurina mochte sie eigentlich ganz gern und vermeinte in ihrem Antlitz auch verblühte Schönheit zu erkennen, aber helfen konnte sie ihr nicht. Ein tragischer Zwischenfall, über den Liselotte nie sprach, hatte sie aus dem normalen Leben gerissen und sie in diese Spitaltretmühle geworfen, die sie allmählich zu zermalmen drohte.
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