Aus unerfindlichem Grund hatte ich das stringente Berdürftnis, mich für die erste Begegnung mit Nino erotisch anzuziehen. Nein, pervers bin ich keinesfalls, aber... irgendwie... eine durchsichtige weisse Bluse und einen engen Rock wollte ich ihm gönnen, dem unbekannten Zuhörer. Meine vordergründigen Gedanken galten natürlich der Lektüre. Was sollte ich ihm denn vorlesen? Mehr zufällig griff ich mir Kästners “Fabian” aus dem Regal. Schriften für Erwachsene. Vage erinnerte ich mich daran, dass da irgendwo eine so genannte “Stelle” war in diesem Buch. Die Stelle, wo Fabian die Brustwarze einer Freundin massiert, und zwar so lange, bis sie gross und hart wird. Das wollte ich ihm geben, dem unbekannten Nino.
Das Mehrfamilienhaus im abgelegenen Quartier fand ich nicht so rasch.
Ninos Mutter führte mich gleich in die Küche, wo ich auf einem Holzschemel Platz nehmen musste. Die Wohnung war karg eingerichtet, karg, aber keinesfalls ärmlich. Sie bot mir eine Tasse Yin-Yang-Tee an und durchbohrte mich mit ihren Blicken, so, als wollte sie sagen “lass die Finger von meinem Sohn, Luder”. Ihre honigsüsse Stimme kontrastierte hierzu seltsam. “Er ist wirklich... krank”, sagte sie, “gelähmt, wissen Sie. Vom Hals an abwärts”. “Tetraplegiker?” fragte ich reflexartig. “Ach... Sie kennen sich aus? Nein, nein, nichts Neurologisches. Mein Sohn ist psychosomatisch gelähmt, verstehen Sie? Die Psyche beeinflusst den Körper...”. Sie hatte Tränen in den Augen.
Nino war auffallend hübsch. Die Zähne vielleicht etwas zu weiss, aber die dichten Augenbrauen, die hoch stehenden Wangenknochen und vor allem das lockige, dunkle Haar und der grosse Mund machten ihn unwiderstehlich. Nino war eine gepflegte Erscheinung. Er begrüsste mich mit einem freundlichen Kopfnicken; ich setzte mich ihm gegenüber auf den Stuhl, den seine Mutter bereit gestellt hatte. Nino sass auf einem blauen Rollstuhl, an dessen für mich sichtbare Seite ein altes Bravo-Poster aufgeklebt war. The Sweet. “Ich bin Glamrocker”, sagte Nino zu mir und lächelte geheimnisvoll. The Sweet. Klar. Ich erinnerte mich. War Nino schwul? Auch mich faszinierte die Band damals, vor allem die stilistische Wendung von Co-Co zu Ballroom Blitz und Hell Raiser. Brian Connollys unbestrittene Schönheit.
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