Die Erzählerin

4 8-13 Minuten 0 Kommentare
Die Erzählerin

Die Erzählerin

Anita Isiris

Etwas verlegen begann ich in meinem Buch zu blättern, Nino fixierte mich unentwegt. Er schien aufzuatmen, als seine Mutter den Raum verliess und die Tür mit einem Seufzer hinter sich schloss. Jetzt waren wir ganz allein, der Nino und ich. Ich entledigte mich meines Capes und ahnte, wohin er starrte. Männer. Ob behindert oder nicht. Männer. Ruhig und erwartungsvoll sass er auf seinem Stuhl. Ich begann, aus dem mitgebrachten Buch vorzulesen. Nino war ein konzentrierter Zuhörer. Nervös nestelte er an der bunten Häkeldecke, die seine Beine verbarg – anscheinend konnte er die Finger ein wenig bewegen. Dann kam sie, die Brustwarzenstelle in “Fabian”. Nino hielt den Atem an. “Lesen Sie das nochmals, bitte.” “Wie ein kleiner Junge”, dachte ich gerührt, “wie ein kleiner Junge”. Nachdem ich ihm die Stelle so oft vorgelesen hatte, wie er das wünschte (so an die 10 – 15 Mal), stand ich auf und strich meinen Rock glatt. “Du... hast doch auch Brustwarzen?” Die naive Bemerkung brachte mich zum Lachen. Ich hatte aber keine Lust auf weitere Provokationen, strich ihm mit leichter Hand über den Kopf und verabschiedete mich. Die Mutter nickte mir unter der Tür zu, reichte mir die Hand aber nicht zum Abschied. Ein leichtes Frösteln packte mich. Zuhause legte ich mich gleich ins Bett und dachte über mich nach. Was war denn über mich gekommen, mich diesem jungen behinderten Mann in durchsichtiger Bluse und engem Rock zu präsentieren? War ich von Sinnen? Drei weitere Antworten auf mein Inserat überflog ich in Eile – mit einem Mal hielt ich es für nicht mehr so wichtig, umgehend zu antworten.
Eine Woche später ging ich erneut zu Nino. Dieses Mal trug ich einen schlichten grauen Pulli und Jeans. Unter dem Arm trug ich den “Homo Faber”. Max Frisch. Nino war kerzengerade aufgerichtet; ein Spreuerkissen stützte sein Kreuz. Er wirkte, als hätte er seit Tagen auf mich gewartet. Er hatte etwas Anrührendes. Er musterte mich enttäuscht, wie mir schien; sein Blick streifte meinen gut verhüllten Busen und den Schritt der engen Jeans. Nein, Leser. Kein Camel Toe. Ich las die Stelle, an der die Tochter des Protagonisten an einem Epiduralhämatom stirbt. Nino hatte gleich Tränen in den Augen. “Lesen Sie mir nächstes Mal was Prickelndes. Bitte. Und... ziehen Sie sich bitte so an wie letzte Woche. Bitte.” Ich fühlte, wie ich rot wurde. Nino trug einen senfgelben Seidenpijama, der ihm ausgezeichnet ins Gesicht stand. Hatte er sich für mich schön machen lassen? Von seiner Mutter?

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 1975

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben