Die Erzählerin

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Die Erzählerin

Die Erzählerin

Anita Isiris

Erst einmal möchte ich mich vorstellen. Das gehört sich so. Mein Name ist Loretta. Vor wenigen Tagen bin ich 25 Jahre alt geworden; ich hasse Geburtstage. Ich bin 1.71 cm gross, habe schulterlanges dunkles Haar. Ich wünschte ich hätte ein paar zusätzliche Locken. Mein Gesicht ist ebenmässig, man sagt mir nach, ich hätte einen Touch von Carla Bruni. Das macht mich nicht unstolz. Ich habe einen langen Hals, der in einen eher schmalen Oberkörper mündet. Dafür sind meine Brüste im Verhältnis eher gross, was aber nichts schadet, wie ich in späteren Jahren herausgefunden habe. In der Pubertät hatte ich aber Probleme damit. Meine Hüften sind zu breit, finde ich – aber das sagt fast jede Frau, die ich kenne, zu sich selbst – und ich kenne viele. Voilà. Und sonst? Eher lange Beine, hübsche Unterschenkel, schön manikürte Füsse (meine Füsse sind meine Lieblingsregion).

Meine Arbeitslosigkeit hat mich zur irren Idee verführt, mich als Erzählerin anzubieten. Ich habe eine angenehme Stimme und war einfach mal gespannt, ob es Menschen gibt, die sich Zeitungsartikel, Gedichte, Kurzgeschichten, Romane und dergleichen vorlesen lassen. Siehe da: Mein Inserat hatte Erfolg. Umgehend hat sich per SMS Nino gemeldet – genauer gesagt, Ninos Mutter. “Mein behinderter Sohn wartet auf Sie”, schrieb sie knapp, “bitte antworten Sie umgehend”. Ich war gerührt. Da bemühte sich doch tatsächlich eine Mutter, ihrem Sohn im grauen Behindertenalltag etwas Abwechslung zu gönnen. Wobei ich hier klar stellen muss, dass der Behindertenalltag keineswegs grau sein muss. Meine langjährige Erfahrung im Sozialdienst hat gezeigt, dass sie es oft bunt treiben, die Rollstuhlgenossen, dass sie oft lustiger sein können als irgendwelche drögen Beamten, Vertreter oder Lehrer, die zwar alle Viere ungehindert bewegen können, aber mental eher auf Sparflamme eingestellt sind.

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