Die Mitbewohner blieben für ihn eine anonyme, diffuse Masse, allerdings mit einer Ausnahme.
Schon ein paar Tage nach dem Einzug fiel ihm eine Frau auf, die eine Etage tiefer in den Fahrstuhl zugestiegen war. Eigentlich fiel sie ihm nur auf, weil sie einen voluminösen, hochgeschlossenen Morgenmantel aus blassrotem Stoff an hatte, der, von einem verknoteten Gürtel geteilt, bis an ihre Knöchel reichte. Darunter sah man bei jedem Schritt bunt bestickte Pantoffeln hervorlugen. Und sie fiel ihm auf, weil sie auf dem Arm einen kleinen Hund hielt, einen Pinscher, der ihn anknurrte. Er nickte der Frau kurz zu, murmelte etwas, das wie „guten Morgen“ klang und damit war für ihn die Konversation beendet. Die Frau wünschte ihm ebenfalls „einen schönen guten Morgen“ und hätte vermutlich ganz gerne mehr geredet, aber er ignorierte sie demonstrativ und starrte verbissen in den Spiegel. Daraufhin schwieg sie auch und blickte in eine vage Ferne. Im Erdgeschoss gingen beide zum Briefkasten und entnahmen die Zeitung, aber während er sofort wieder zum Fahrstuhl zurück kehrte, öffnete sie die Haustür, ließ den Hund auf den Gehweg und blieb, die Zeitung durchblätternd, in der offenen Tür stehen. Wenn er eine halbe Stunde später zur Arbeit ging, konnte es sein, dass sie immer noch dort stand.
Ein paar Tage später traf er die beiden erneut im Aufzug, der Hund knurrte wieder, aber, wie ihm schien, deutlich verhaltener. Er hatte sich so hingestellt, dass er, höchst unhöflich, der Frau den Rücken zu wandte, sie aber um so eingehender im Spiegel mustern konnte. Sie war nicht groß, reichte ihm, der hager und mickerig und selbst gerne größer gewesen wäre, gerade mal bis an die Schulter. Ob sie schlank, vollschlank oder gar dick war, konnte er wegen des voluminösen Morgenmantels nicht beurteilen. Sehr gut erkannte er dagegen, dass ihre wuscheligen, rötlichen Haare gefärbt und ihre Augen grün waren.
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.