Der Fahrstuhl

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Der Fahrstuhl

Der Fahrstuhl

Yupag Chinasky

Und er bemerkte auch die vielen kleinen Fältchen um die Augen und den Mund und schloss daraus, dass sie wohl schon in den besten Jahren war, obwohl sie noch sehr jugendlich aussah. Zu dieser frühen Stunde entdeckte er auf ihren Lippen Reste des Lippenstifts vom Vortag und folgerte, dass sie sowohl etwas eitel als auch etwas schlampig sein musste. Nach einigen dieser Begutachtungen musste er sich widerstrebend eingestehen, dass diese seltsame Frau eine höchst anziehende Wirkung auf ihn ausübte und dass ihm besonders ihr leicht versonnenes Lächeln und der Blick in die Ferne gefiel. Als ihn jedoch dieser Blick bei einer seiner Betrachtungen unvermittelt traf und sie ihn neugierig und leicht abschätzig anschaute, lief er rot an und sah erschrocken auf den Boden.

Am Anfang waren die Begegnungen im Fahrstuhl zufällig, manchmal sahen sie sich mehrere Tage nicht, dann wieder an zwei oder drei aufeinanderfolgenden. Sie lächelte auf ihre seltsame Art und schickte sich das eine oder andere Mal an, etwas zu sagen, da aber seine ganze Haltung pure Ablehnung ausdrückte und keinerlei Bereitschaft für eine Kontaktaufnahme erkennen ließ, schwieg sie ebenfalls und ihr Blick verlor sich in der Ferne. Dabei entging ihr jedoch nicht, dass er sie trotz des zur Schau gestellten Desinteresses mittels dieser indirekten, indiskreten Spiegelmasche unverhohlen, ja geradezu lüstern anstarrte. Und sie schien das Interesse an ihrer Person zu genießen, denn sie wandte sich keinesfalls ab, sondern stellte sich immer so hin, dass sie voll im Spiegel zu sehen war. Auch der Hund war mittlerweile zutraulich, ja richtig vertraut geworden. Er wedelte freudig mit dem kurzen Schwanz und stieß leise Fieplaute aus. Der Mann, hin und her gerissen zwischen Interesse und Ablehnung, Neugier und peinlichem Berührtsein, war jedes mal froh, wenn der lahme Fahrstuhl endlich im Erdeschoß hielt und er die Kabine hastig verlassen konnte.

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