Er war ein seriöser Mann, einerseits zuverlässig und pünktlich, anderseits prüde und langweilig, jedenfalls einer mit sehr festen Gewohnheiten. Alles was er tat war von Kantscher Präzision, man hätte die Uhr danach stellen können. Erst vor kurzem war er mit seiner Familie in diesen mehrstöckigen Altbau gezogen, alles andere als ein Schmuckstück, aber die Wohnung im sechsten Stock war renoviert und modernisiert und vor allem bezahlbar. Die Wohnlage, na ja, man konnte ihr entkommen, die Straßenbahn hielt fast vor der Haustür.
Sein Alltag verlief nun wieder nach einem Rhythmus, den er als gut befand. Dazu gehörte das Zeitungslesen nach dem Frühstück. Wenn Frau und Kinder die Wohnung verlassen hatten, fuhr er mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und holte die Zeitung. Der Gang durch den dunklen, schlecht beleuchteten und immer muffig riechenden Flur und die Fahrt in dem uralten Fahrstuhl, der, so schien ihm, genauso alt war wie das Haus, war ihm unangenehm, weil es ihm immer schmerzhaft zum Bewusstsein kam, was er alles hatte aufgeben müssen. Dennoch hielt er eisern an der Gewohnheit fest, die Zeitung zu lesen, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Der einzige Luxus dieses Fahrstuhls, mit seinen grau lackierten Außentüren war ein großer Spiegel in der geräumigen Kabine, der fast bis auf den Boden reichte und der ihm jeden Morgen die Überraschung bot, sich selbst vor sich stehen zu sehen. Um diese Zeit musste er nie lange auf das Rumpeln warten, mit dem der Aufzug sein Kommen ankündigte. Die Hausbewohner waren entweder schon zur Arbeit gegangen oder sie hielten sich noch in ihren Wohnungen auf. Diese Hausbewohner, die er so gut wie gar nicht kannte und die kennen zu lernen, er auch nicht vor hatte. Alle, die er im Haus traf, grüßte er knapp und frostig. Zu einem Plausch, selbst über ein banales Thema wie das Wetter, hätte er sich nie hergegeben. Die Mitbewohner blieben für ihn eine anonyme, diffuse Masse, allerdings mit einer Ausnahme.
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