„20:00 Uhr, beim Rothenburger Kreuz?“ Das Rothenburger Kreuz war ein beliebter Treffpunkt. Claudia hatte dort schon mehrere Facebook-Bekanntschaften getroffen – mit mehr oder weniger erfreulichem Ausgang.
„Rothenburger Kreuz“, sagte sie. „Aber ich mache nicht alles mit.“
„Schon gut.“ Marlo lächelte wieder dieses unwiderstehliche Lächeln. Er warf ihr eine Kusshand zu und verliess Claudias Zimmer – nicht ohne einen letzten Blick zwischen ihre Schenkel zu werfen. Claudias Nachthemd war bis zum Nabel hoch gerutscht.
Das Rothenburger Kreuz war nicht nur ein beliebter Treffpunkt, sondern auch ein berüchtigter Ort. Es wimmelte nur so von Taschendieben, die Strassen in unmittelbarer Umgebung waren schlecht beleuchtet, und es begegneten sich hier nicht nur junge, hübsche Menschen, die es gut mit sich und der Welt meinten. Auch Psychopathen trieben sich hier umher, zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter, und sie saugten alles in sich auf, was sich hier punkto Schuhe, Waden, Schenkel, Strumpfhosenhintern und angedeutetem Busen zeigte. Ja, gerade Frauen wurden hier richtiggehend inhaliert. Geilheit waberte in der Luft; das berühmte „erste Treffen“ fand hier statt, es wurde aber auch angemacht, angebaggert, abgeschleppt.
Claudia trug eine neckische rote Mütze und war dezent geschminkt. Sie wusste kunstvoll mit Cajal umzugehen, und das Verlangen in ihren Augen wurde durch den geübten Strich noch verstärkt. Ihr kurzes, offenes Haar umrahmte Claudias Gesicht; sie wirkte verführerisch wie eine junge Französin, die das erste Mal vor sich hat, an der Seine, am Mont-Martre oder auf dem Père-Lachaise-Friedhof.
Claudia trug ein dunkelgrünes Kleid mit ein paar silbernen Pailletten, was ihr den Touch einer Künstlerin verlieh. Die silbernen Schnallen an den dunkelbraunen Stiefeletten schenkten Claudia Verwegenheit, und verwegen war ja auch das, worauf sie sich in den nächsten Stunden einlassen würde.
„Romina und Remo!“ Ganz wohl war ihr nicht mehr bei der Sache; Claudia war sich noch nicht mal sicher, ob sie es wirklich noch sein wollte: Eine „femme aux hommes.“
Aber es war jetzt zu spät für derartige Überlegungen. Aus dem Dunkel löste sich die Gestalt von Marlo. Er trug ein gut sitzendes Jackett, eine dezente Kravatte und ein senfgelbes Hemd. Die Flanellhose sass perfekt – Marlo sah aus wie einer, der auf jeder Ebene seine Connections hatte. Wenn man ihn so sah, hätte man ihm seine bescheidene Bleibe im Personalhaus nicht zugetraut. Er fasste Claudia an der Hand; dieser blieb fast das Herz stehen. „Nur nicht verlieben“, sagte sie zu sich. Schweigend gingen die beiden nebeneinander her, durch die Köllner Gasse, über den Rabensdorfer Platz und über die kleine Holzbrücke, an deren anderem Ende die Erker von „Romina und Remo“ zu sehen waren.
Claudia kannte sich mit solchen Etablissements nicht aus und vergegenwärtigte sich in diesem Augenblick, dass sie Marlo ausgeliefert war. Dieser verhielt sich galant und stiess für Claudia gentlemanlike die Tür auf. Eine schmale Treppe führte nach oben, und Claudia war ob der Stille überrascht. Sie hatte immer geglaubt, dass einen in solchen Lokalen erst mal Parfumduft in die Nase stechen und dass Lustgeräusche zu vernehmen sein würden. Doch nichts dergleichen bewahrheitete sich. Es roch nach nichts und es war totenstill
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