Er war in Gedanken versunken. Als er aufblickte, fiel ihm die Frau auf. Genaugenommen war es ihr Haar: Blond, in einer warmen Nuance von Altgold. Es fiel ihr über die Schultern, seitlich gescheitelt. Als die Frau aufstand, um den Bus zu verlassen, sah er ihre ganze Gestalt. Sie war auffallend klein und zierlich, gefühlt eineinhalb Köpfe kleiner als er. Das lange, fließende Haar gab ihrer Erscheinung diese besondere Note. Dadurch wirkte ihr Kopf im Vergleich zum Körper ausdrucksstärker. Wenn es nicht kitschig klingen würde, könnte man sagen ‚Er war geblendet!‘. Sie ging an ihm vorbei zum Ausstieg hinter ihm. Sie hatte eine sportliche Figur. Gut geformte und trainierte Beine steckten in einer enganliegenden blauen Jeans-Hose. Darüber trug sie einen weinroten Anorak – der perfekte Untergrund für ihr goldenes Haar. Welch ein Anblick!
Plötzlich sprang er auf, um auch noch aussteigen zu können. Er schaffte es gerade noch durch die Tür, die sich schon zu schließen begann. Er schaute sich um, um die Frau zu suchen. Sie war schon einige Schritte die Straße runter unterwegs. Bevor er sich so richtig klar wurde, was er da eigentlich tat, folgte er ihr – auf Abstand, aber in der festen Absicht, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Dann war sie plötzlich weg. Er war irritiert. Eben war sie doch noch da. Aber wohin er schaute, nichts mehr von ihr, dem weinroten Anorak und va dem besonderen Haar. Er drehte sich unschlüssig im Kreis und begann jetzt erst einmal darüber nachzudenken, wieso er überhaupt hier auf dem Gehweg stand. Plötzlich fiel es ihm ein: Er hatte sich vom ‚Goldrausch‘ anstecken lassen. Spontan, unüberlegt, übermotiviert wie viele andere Schürfer, die sich andernorts schon hatten blenden lassen.
„Suchen Sie mich?“. Plötzlich stand sie vor ihm – in kleiner Größe, mit offenem Blick und einem lächelnden Gesicht. „Nun ja …“. „Was wollen Sie denn von mir?“ „Na, von Wollen kann eigentlich nicht die Rede sein. Ich war nur so…“ „Ja?“ „…geblendet“ „Geblendet?“ „Ihre Haare. Die sind wunderschön, so warm, so golden.“ „Echt jetzt? Das hat noch niemand zu mir gesagt. Also wenn das eine Anmache sein soll, dann ist es die ungewöhnlichste, die ich erlebt habe!“
„Weißt Du, äh wissen Sie“ – „Wegen mir können wir uns ruhig duzen! Ich bin Kathi“. Ihre schnell hingestreckte Hand brachte ihn erneut aus dem Konzept. Es dauerte etwas, bis er einschlug – und dann gerne und lange ihre Hand drückte. „Du kannst glaub ich wieder loslassen“ „Äh, ja, natürlich“. „Du warst vorhin bei meinen Haaren“. „Stimmt: Ich saß vorhin im Bus, in Gedanken versunken. Es läuft gerade nicht so rund bei mir. Als ich da aus meinen trüben Gedanken aufblickte, stachen mir deine Haare ins Auge. Nicht mehr und nicht weniger“. „Ich nehme das mal als Kompliment. Wie heißt Du eigentlich?“ „Lars“. „Also, hallo Lars“ Nun drückte Sie ihm die Hand.
Fließendes Gold
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