Drei Techniker der Gassner GmbH sowie Frau Baumüller blieben in Brasilien zurück, um die letzte der Wasseraufbereitungsanlagen dieses gut Hundert-Millionen-Euro-Auftrages in Betrieb zu nehmen. Für alle anderen, die in Südamerika tätig waren, startete der Rückflug nach Deutschland über Sao Paulo und Amsterdam bereits am Morgen des 19.12. Zwei Tage früher als ursprünglich geplant. Pat hatte längst die Flugtickets über Heike Gerber geordert. Diese kleine Überraschung für ihr Team sparte sich Patricia bis zuletzt auf. „Dafür möchte ich Euch aber auf der Mitarbeiterversammlung am Freitag alle begrüßen!“ war ihre Bitte. Und dass es viel zu berichten gäbe.
Unausgeschlafen, den Grund erfahren wir später, aber pünktlich erschien die Projektleiterin, Geschäftsführerin und Prokuristin sowie die drei Kollegen, die mit ihr zwei Tage länger in Brasilien zurückgeblieben waren, zur Versammlung. Der Jahreszeit geschuldet fand diese in einer der Produktionshallen statt.
Martin überließ es „Frau Baumüller“, die Mitarbeiterversammlung zu eröffnen. Diese bat erst einmal Frau da Silva, für uns bekannt als Franziska, Leiterin Buchhaltung und Rechnungswesen, über die Zu- und Abgänge sowie die Todesfälle bei den ehemaligen Betriebsangehörigen, soweit bekannt, zu berichten. Auch die nackten Zahlen der österreichischen Dependance wurden erörtert.
Dann übernahm erneut Patricia den Platz am Mikrofon. „Das Allerwichtigste zuerst: Es sind alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von allen Einsätzen weltweit, natürlich gab es ein paar Krankheitsfälle und kleinere Unfälle, unversehrt zurückgekehrt!“
Pat überflog noch einmal ihre Blätter mit den Stichpunkten. Sie bedankte sich bei allen Betriebsangehörigen für deren Einsatz. „Immerhin haben wir in diesem Jahr das mit Abstand umsatzstärkste Jahr seit der Firmengründung zu verzeichnen!“
Martin hatte sich gemütlich auf einem Stuhl, zwar in der vordersten Reihe aber ganz außen, niedergelassen. Er lächelte und würde den Ball mit einem Kompliment an seine Geschäftsführerin später zurückspielen.
„Dazu kommt die Übernahme einer kompletten Konkurrenzfirma!“ Pat betonte, dass dies für viele Angestellte eine große Mehrbelastung war. „Aber,“ Patricia zeigte sich euphorisch, „Wir sind jetzt noch konkurrenzfähiger und ich behaupte, dass wir in der Lage sind, jedes auch noch so große Projekt stemmen zu können!“
Die Geschäftsführerin erzählte ein paar Details zu dem österreichischen Ableger und wie sich das komplette Unternehmen zukünftig aufstellen möchte. Pat kaschierte geschickt, ohne einen Namen zu nennen, wer den Ableger zukünftig leiten würde.
„Ich danke euch alle für die hervorragende Arbeit, die jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter geleistet hat.“ Es hatte den Anschein, als würden Patricias Ausführungen hier enden. Aber nein! Sie nahm das drahtlose Mikro in die Hand und ging auf den Chef der Firma zu.
„Deine Frau hat gesagt, ich darf das…“ Sie drückte Martin, der natürlich aufgestanden war, ein Küsschen direkt auf den Mund. „Einfach Danke, was Du hier leistest! Und nochmal Danke, dass Du der beste und zuverlässigste Freund bist, den man sich nur wünschen kann! Pat sprach auf seine schnelle Hilfe an, als man sie in Brasilien verhaftet hatte.
„Und jetzt kommen wir zu einem etwas schwierigeren Thema.“ Die Prokuristin war zu dem leicht erhöhten Sprecherpult zurückgekehrt. „Die Auftragslage für das neue Jahr!“
Ein Raunen ging durch die Belegschaft. Würde die Arbeit ausgehen?
„Unser Andreas, Außendienstmitarbeiter und Auftragsakquise, konnte einige Aufträge für einzelne Aufbereitungsanlagen an Land ziehen. Und so wie es aussieht, gibt es noch ein-, zwei Folgeaufträge in der Türkei.“ Patricia schaute in die Runde und schweifte ein wenig vom Thema ab. „Es freut mich, dass Ihr alle gekommen seid!“ Dabei zwinkerte sie bewusst Thomas Müller zu. Denn der wusste bereits Bescheid über das, was Patricia noch verkünden würde.
„Ah, bevor ich es vergesse: „In Absprache mit unserem Betriebsrat wird es für das erfolgreiche Jahr eine Prämie für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben. Wir müssen die Bilanz abwarten, gehen aber von einer mittleren vierstelligen Summe pro Kopf aus!“ Dafür erntete sie spontanen Applaus aller Anwesenden.
„Wir, sie schaute gezielt auf Martin, hoffen Euch damit ein wenig motivieren zu können!? Denn:“ Patricia machte eine kleine Pause und schaute diesem und jenem direkt ins Gesicht. „Brasilien wird weitergehen!“
Wieder ging ein Raunen durch die Belegschaft.
„Der Umfang ist beinahe derselbe wie in diesem Jahr! In den Tagen, an denen ihr mich auf keiner der Baustellen finden konntet, gab es Verhandlungen. Mehrmals haben Delegationen unsere Baustellen besichtigt. Was soll ich sagen? Wir sind die Besten! Die Anlagen laufen, wir haben unsere Zeitpläne bei weitem unterschritten und unser Ruf weltweit ist „excelente“! So würden es jedenfalls die Brasilianer ausdrücken.
Patricia wartete das Abebben des Beifalls ab. Mit: „Ich wünsch Euch schöne Feiertage und viel Freude mit euren Familien, Freunden und Bekannten!“ Dann trat sie ab.
Thomas Müller eilte zum Mikro und bat: „Warte bitte!“
Pat blieb stehen und drehte sich dem Pult wieder zu. In der Halle war es schlagartig still geworden.
„Du hast mir das Leben gerettet!“ Die Stimme des leitenden Ingenieurs aus den Lautsprechern klang ernst. Thomas hatte plötzlich einen riesigen Blumenstrauß in der Hand. „Ich danke Dir!“ Er ging auf Patricia zu, umarmte sie und überreichte das Bouquet.
„Ach Thomas, das wäre doch nicht nötig gewesen…!“ Patricia war sehr gerührt und nahm die Blumen gerne entgegen.
Martin übernahm den Platz am Mikro und klärte später die Zusammenhänge für all diejenigen, die es noch nicht wussten, auf. Dass Frau Baumüller in einer Nacht- und Nebelaktion den schwer erkrankten Thomas Müller aus einem brasilianischen Provinzkrankenhaus entführt und mit dem LKW in eine größere Klinik nach Sao Luiz gefahren hatte. Leider ohne Fahrerlaubnis. Und dass sie daraufhin verhaftet wurde.
„Es ist ziemlich genau ein Jahr her…,“ holte Martin aus, „da durfte ich Ihnen eine neue Geschäftsführerin präsentieren. Und ich denke mehr denn je, dass diese Wahl die allerbeste war, die ich und meine Frau treffen konnten! Vielen Dank Patricia für dein irre wahnsinniges Engagement!“
Pat hatte nichts von ihrer Beliebtheit bei den Kolleginnen und Kollegen verloren, obwohl sie seit einem Jahr einen Posten in der Geschäftsführung bekleidete und auch als Projektleiterin manchmal unliebsame Entscheidungen treffen musste. Der Applaus war riesig.
„Unsere Firma expandiert, wie Frau Baumüller ja schon vorgetragen hat.“ Martin legte eine kurze Sprechpause ein. Auch in Rhetorik war er ein Meister! „Unsere österreichischen Kolleginnen und Kollegen waren ja fast alle schon einmal hier und viele von Euch waren dort. Und jetzt ist es an der Zeit, in Österreich die Stelle der Geschäftsführung zu besetzen.“
„Bis gestern Abend wusste selbst ich noch nicht, wen ich Euch für diese Stelle vorstellen darf!“ Der Firmenchef schaute durch die Reihen seiner Angestellten. „Ich habe zwei Frauen gefragt und bin glücklich, dass sich Frau Baumüller aus freien Stücken entschieden hat, hier in Hallbergmoos zu bleiben.“
„Denn wäre sie nach Österreich abgewandert, hätten wir hier eine neue Geschäftsführerin bekommen!“ Martin grinste und Franziska schluckte. „So aber darf ich Euch eine sehr beliebte, äußerst kompetente und eine euch allen gut bekannte Kollegin als neue Prokuristin und Leiterin der österreichischen Dependance vorstellen: Franziska da Silva!°
Franziska, zumeist in sich gekehrt und eher eine „graue Maus“, hatte nicht den Beliebtheitsgrad einer kontaktfreudigen Patricia Baumüller. Trotzdem war der Applaus beinahe tosend.
Die neue Prokuristin trat vor das Mikro. Sie erinnerte sich daran, welche Worte Pat vor einem Jahr gewählt hatte. „Auch ich kann euch versichern, dass ich nicht mit Herrn Andersson im Bett war, um diese Stelle zu bekommen…!“ Sie dankte ihrem Ehemann, dass er, ohne zu zögern ihr seine volle Unterstützung zugesagt hatte. Franziska erzählte ein wenig aus ihrem Leben. Ihr Mann sei Spanier und daher das „da Silva“!
Nein, Franziska war es nicht gewohnt, vor Publikum zu sprechen. „Nach der dritten Ansprache hast Du das drauf!“, versicherte ihr Martin.
*****
Blicken wir zurück auf den Vorabend dieses Freitags. Drei Tage vor Weihnachten luden die Firmeninhaber Olivia und Martin die Baumüllers, die Leiterin der Verwaltung Franziska da Silva und deren Mann sowie Heike Gerber mit ihrem Freund zum Essen in die Villa ein. Clara und Leon durften mit Daniela zu einer Musikaufführung und würden bei ihrer großen Freundin in der Penthousewohnung anschließend auch übernachten.
Anlass des Treffens war die zukünftige Führungsstruktur der Gassner GmbH. Martin und seine Frau waren sich einig, dass sich Olivia, obwohl Anteilseignerin, weiterhin aus der Geschäftsführung heraushalten würde. Gerade in Bezug auf Österreich würde es viel zu besprechen geben und Heike müsste Notizen machen.
Franziska, vom Kleidungsstil und ihrem Auftreten eher konservativ, war heute zum ersten Mal Gast in der Villa der Anderssons. Vom Alter her dürfte sie, so schätzte die Hausherrin, zwei, drei Jährchen jünger als Patricia sein. Nach dem Essen bat Martin seine Gäste, nach Lust und Geschmack sich selbst an der, immer noch provisorischen Bar mit Getränken zu versorgen.
Martin ließ Patricia alle Optionen offen. Dass sie die brasilianischen Projekte bis zum Abschluss weiter betreut, da war sie sich mit ihrem Chef einig. Aber ob sie auch die Leitung der österreichischen Dependance übernimmt, oder doch lieber die Geschicke der Firma aus der Zentrale heraus steuert, war noch offen.
Irgendwann fiel es der Verwaltungsleiterin während der Gespräche auf, dass Heike, die stichpunktartig mitschrieb, ein Lederhalsband trug und sprach sie darauf an.
„Gefällt es Dir nicht?“ fragte Heike ohne speziellen Tonfall.
„Doch, warum nicht?“ antwortete Franziska. „Ist halt ungewöhnlich.“
„Ich habe eure Männer auch mit eingeladen, damit ihr euch zuhause nicht erklären müsst.“, lenkte Martin die Aufmerksamkeit wieder auf das Geschäftliche. „Also ich könnte mir drei Szenarien vorstellen;“ erklärte sich der Firmenchef. „Entweder Patricia übernimmt Österreich;“ er schaute dabei seine Intimfreundin und Prokuristin eindringlich an. „Oder Du, Franziska könntest dort die Leitung übernehmen!“ Martin war klar, dass seine Angestellte erst einmal völlig überrascht sein würde. „Es könnte natürlich auch ein Externer oder eine Externe den Posten übernehmen. Dann würde ich Dich, Martin deutete auf seine Sekretärin, dorthin abstellen wollen. Für diesen Fall bräuchte ich dort nämlich jemand, dem ich vertrauen kann und uns Informationen zuspielt. Heike saß, nach Martins Worten, wie versteinert da und bewegte nur ihren Kopf hin- und her.
Franziska
Eine nicht alltägliche Familie - Teil 61
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