Er fuhr in der U-Bahn, nur so, ohne ein konkretes Ziel. Den ganzen Tag war er umhergelaufen, hatte Museen und Ausstellungen besucht, bekannte Straßen und angesagte Kneipen abgeklappert, das übliche Besucherprogramm in der Hauptstadt. Jetzt schmerzten seine Füße, der Rücken tat weh, er hatte Hunger und keine Ahnung, was er mit sich und dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Er saß auf dem grauen, gemusterten Polster und schaute aus dem gegenüberliegenden Fenster auf die dahinhuschenden Tunnelwände, auf die Bahnsteige, die in ein unwirkliches gelbes Licht getaucht waren, lauschte dem Rattern der Räder, den Stationsansagen, fühlte das Abbremsen und Anfahren des Zugs, hörte das Öffnen und Schließen der Türen und vernahm nach jedem Halt die Aufforderung „zurücktreten“. Er langweilte sich.
Die Frau in Schwarz fiel ihm sofort auf, als sie einstieg. Weil sie sich auf die Fensterbank ihm direkt gegenüber gesetzt hatte, konnte er sie gut beobachten, erst verstohlen, scheinbar uninteressiert, schließlich jedoch ganz unverholen. Sie war nicht mehr ganz jung, etwas untersetzte und ganz in Schwarz gekleidet. Eine knappe, halbgeöffnete Lederjacke, ein kurzer Rock, Strümpfe mit großen Mustern, hohe Stiefel. Alles in Schwarz, so wie auch ihre Haut ein tiefes Schwarz war. Das Gesicht breit, die Haare schulterlang mit Ponys bis knapp über die großen, ausdruckstarken Augen, die Nase eher klein und auch breit, die Lippen sehr groß und sinnlich und durch einen dunkelroten Lippenstift besonders betont. An den Ohrläppchen schwere Silberringe, in den Ohrmuscheln gepiercte Perlen. Die schmalen Hände mit auffallend hellen Innenflächen hielten eine große Handtasche auf ihrem Schoß, auch diese schwarz mit Silberbeschlägen. Ihr Aussehen allein wäre Grund genug, Aufmerksamkeit zu erregen, doch es kam noch etwas in ihrer Haltung und in ihrem Gesichtsausdruck hinzu. Sie hatte den Oberkörper vorgebeugten, die Beine leicht gespreizten und wippte auf den Fersen. Es sah aus, als wäre sie auf dem Sprung, als wollte sie sich auf eine Beute stürzen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entspannt, aber ihre Augen wanderten ruhelos von Objekt zu Objekt, von Person zu Person und immer, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit erregte, blitzte in diesen Augen eine wilde Entschlossenheit, ein mühsam beherrschter Wille auf. Dieser Widerspruch zwischen scheinbarer Gelassenheit, ja demonstrativer Gleichgültigkeit und explosiver, kaum zu bremsender Triebkraft machte sie für ihn interessant und attraktiv, verdammt attraktiv. Er war sich sicher, dass man ihr Pferde stehlen und wilde Liebesnächte verbringen konnte und das wollte er jetzt, hier und heute.
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