Fremde Nähe

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Fremde Nähe

Fremde Nähe

Ines Wertenbroch

Es klingelte. Er war eine halbe Stunde später als vereinbart hier. Ich öffnete die Tür und bat ihn, hereinzutreten. Er jedoch forderte mich auf, vor ihm in die Wohnung zu gehen. Ich sah ihn verwundert an, denn um die Tür hinter mir zuzuziehen, musste ich ihn vorlassen. Ich ging dennoch vor und lief in den Flur. Er folgte mir in dichtem Abstand. Ich wies ihn in mein Wohnzimmer und drehte mich dann um, um die Tür zu schließen. Es war bereits dunkel, obwohl es erst Nachmittag war. Kalte Luft zog von draußen hinein.
Vom Flur aus konnte ich sehen, dass er sich in dem Zimmer aufmerksam umschaute. Er schien zu frösteln. In der rechten Hand trug er eine Einkaufstüte.
Ich ging zu dem gedeckten Tisch auf dem Geschirr, Kaffee und Plätzchen standen und bot ihm den Platz mir gegenüber an. Er holte ein Päckchen aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. Es war Kuchen. Wie selbstverständlich begann er, ihn aus dem Papier zu wickeln. Ich sah ihm zu, wie er von zwei Sorten jeweils zwei große Stücke auf einer Pappe liegend enthüllte.
Ich wollte ihm das Papier abnehmen, doch er fragte stattdessen, wohin er es bringen könnte. Ich zeigte ihm den Abfalleimer in der Küche.
Dann kam er ins Wohnzimmer zurück, setzte sich und fragte, ob ich etwas Warmes für ihn hätte, ihm sei kalt. Ich hätte Kaffee da, antwortete ich. Er wollte nach der Kanne greifen, doch ich hielt ihn zurück und sagte, er sei mein Gast und ich würde ihm einschenken.
Während ich mir selbst eingoss, schaute ich auf den Kuchen, den er mitgebracht hatte. Auf meine Frage, welches Stück er essen wolle, antwortete er nur, das, was ich ihm geben wollte. Ich zögerte. Dann legte ich den gleichen Kuchen auf seinen Teller wie mir selbst auch. Es war Kirschkuchen mit Buttercreme und Schokoladenglasur.
Während wir aßen, schaute er sich in dem Zimmer um. Sein Blick blieb auf den Bildern hängen. Ganz besonders an einem. Darauf war eine junge Frau zu sehen, die ihren Kopf auf den Tisch gelegt hatte und in eine Kerze schaute.
"Sie sieht aus wie du. Worauf wartet sie?" fragte er und schaute mir lange in die Augen. Ich schluckte den Kuchen hinunter und antwortete: "Sie wartet sehnsüchtig auf bessere Zeiten. Sie ist unglücklich, weil sie nicht den Mann lieben darf, den sie lieben möchte."

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