Der Zeiger der Küchenuhr rückte unaufhaltsam gegen 18:00 Uhr. Sebastian sass am Tisch mit der abgenutzten Platte und versuchte, alles so wahrzunehmen, wie es im Moment war – als würde sich in den nächsten Stunden alles unwiederbringlich verändern. In seinem Bauch rumorte dieses unangenehme Gefühl von Eifersucht, und dazu hatte er guten Grund. Er würde Simone zum Regierungsgebäude fahren und sie dort abgeben müssen. Seine geliebte, goldgelockte Simone, das Schönste, was er je besessen hatte. Hätte es etwas genutzt, in die Tischkante zu beissen – Sebastian hätte es beileibe getan! Und niemand wusste, wohin das Land abdriftete. Nachdem bekannt geworden war, dass drei Kapuzenmänner den Präsidenten erschossen und das Parlament niedergemäht hatten, waren alle Bildschirme schwarz geworden. Seither wusste niemand mehr genau, was sich abspielte. Die Leute wagten sich nicht auf die Strasse, weil niemand wissen konnte, welche Art Revolution da im Gange war. Das Leben stand still – und das in einer Stadt mit immerhin 50'000 Einwohnern. Dann war dieser Brief eingetroffen – mit dem Logo der Regierung. Briefe waren eigentlich schon längst durch Mails ersetzt – es fühlte sich für Sebastian schon fast archaisch an, einen Umschlag zu öffnen.
Dann war er erstarrt. Es war von ihm verlangt worden, dass er seine geliebte Simone am Freitagabend, den 16. September, um 19:00 Uhr an der Grotenstrasse 23 ablieferte. Punkt Mitternacht würde er sie dort wieder abholen können. Was sie mit Simone in diesen 5 Stunden machen würden, stand nicht im Brief. Es war Ende August, und es waren noch 16 Tage übrig, in denen er Simone in den Briefinhalt einweihen konnte. Bevor sich Sebastian dazu überwunden hatte, suchte er eines Abends die Grotenstrasse auf. Er war mit gesenktem Kopf gegangen, im Wissen, dass er jederzeit von einem Kapuzenmann hätte erschossen werden können. Aber die Neugierde und die Sorge um seine hübsche junge und vor allem ahnungslose Frau hatte ihn dorthin getrieben. Sebastian hatte seine Vorahnung bestätigt gesehen. Die Grotenstrasse 23 lag in einem kleinen Aussenquartier – und von weitem schon schimmerte eine Marilyn Monroe nachempfundene sich räkelnde Frau über dem Hauseingang. Die von Strassenlampen spärlich beleuchtete Grotenstrasse 23 war eine Bar, oder möglicherweise ein Club. Sebastian drehte sich der Magen, wenn er sich vorstellte, dass Regierungsmitglieder dort seine Geliebte zur Hure machen, sie möglicherweise zu einer Tabledance-Show und zu Fummeleien zwingen würden. Aber Sebastian wusste auch, dass Befehlsverweigerung unverzüglich seinen – und den Tod seiner Geliebten – nach sich ziehen würde.
Mit geweiteten Augen hatte Simone reagiert, als er ihr zwei Tage zuvor den Brief vorgelesen hatte. Seine Stimme hatte gezittert, so bewegt war er gewesen. Besonders pervers fand er, dass er als unmittelbarer Zulieferer dienen sollte – eine Strategie der Erniedrigung ohnegleichen. Es wurde von ihm erwartet, dass er sein Goldschätzchen den lüsternen Fingern, Zungen und Schwänzen unbekannter Männer darbot. Sein Schätzchen direkt an der Grotenstrasse 23 ablud, wo sie abgeholt werden würde.
Fummeleien mit Simone
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