Für deine Zeit

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Für deine Zeit

Für deine Zeit

Chloé d'Aubigné

Sie erinnerte sich an ihr erstes Treffen, es war auf der Ausstellung. Ein kurzer Blick, ein Gespräch, das sofort fesselte. Er sprach mit einer Leichtigkeit und Tiefe, die sie selten erlebt hatte. Seine Worte waren klug, seine Gedanken scharf – und doch wirkte er ganz selbstverständlich, nicht überheblich.
Er war fast fünfzig, gut in Form, mit einem Stil, der kultiviert und zugleich entspannt wirkte. Sein Lächeln hatte etwas Vertrautes, obwohl sie ihn gerade erst kennengelernt hatte.
Er hatte markante Züge, graumeliertes Haar, das ihm einen distinguierten Ausdruck verlieh, und dunkle Augen, in denen oft ein amüsiertes Funkeln lag. Seine Hände wirkten gepflegt, die Bewegungen ruhig und kontrolliert. Die feinen Fältchen um die Augen verrieten, dass er gerne lachte – und viel erlebt hatte.
Sie wusste, dass er verheiratet war, Kinder hatte. Trotzdem tauschten sie am Ende des Abends ihre Nummern aus. Auf dem Heimweg spürte sie dieses unerklärliche Ziehen.
Sie erinnerte sich an ihr erstes Date. An das schlechte Gewissen, das wie ein Schatten über dem makellos gedeckten Tisch lag. Der Wein glänzte dunkelrot im Glas, das Licht war gedämpft, und doch war da diese Schwere, die sie nicht abschütteln konnte.
Irgendwann, mitten im Gespräch, hatte sie es ausgesprochen: „Glaubst du, das ist richtig? Du bist verheiratet. Und… vielleicht auch zu alt für mich. Oder ich bin zu jung. Ist das nicht alles falsch?“
Er hatte sie lange angesehen, dann gelächelt – ein Lächeln, das mehr verriet als alle Worte. „Es ist nicht an dir, das für mich zu entscheiden“, sagte er ruhig. „Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will. Du musst nur wissen, was du willst.“
Alles in ihr sträubte sich – und doch wollte sie ihn. „Ich brauche Zeit“, flüsterte sie.
Er nickte, ohne zu drängen. „Natürlich. Nimm dir, was du brauchst.“
Später, allein auf dem Heimweg, musste sie sich eingestehen, dass sie es ausprobieren wollte. Auch wenn sie ihn dafür verachtete, dass er seine Frau betrog. Auch wenn sie sich selbst dafür verachtete, dass sie es zuließ.

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