Draussen weht eine Bise, und Ute ärgert sich, dass sie sich unter dem Haartrockner nicht mehr Zeit gelassen hat. Ein paar nasse Löckchen kringeln sich in ihrer Stirn. Einmal mehr verflucht sie ihre tief sitzende Jeans. Sie friert an den Hintern. Dann greift sie zum Handy. Nina della Rosa antwortet sofort. “Hätten Sie Zeit, mir nebst der Nagelpflege eine Gesichtsbehandlung zu machen?” fragt Ute erwartungsvoll und freut sich, dass Nina della Rosa spontan zusagt. Offenbar hat sie nicht allzu viele Kundinnen. Ute hat das tiefe Bedürftnis, es sich gut gehen zu lassen.“Das Besondere am Beruf der Kosmetikerin ist, dass sie die Haut nur in der Ganzheit von Körper, Gefühls- und Seelen-Empfindungen sowie Geist und Umwelt sehen darf“. Diesen Satz hatte Ute vor einiger Zeit von Nina della Rosa gehört und ihn sich tief eingeprägt. Nach Abschluss ihres Studiums würde sie als Architektin niemals etwas Ganzheitliches, Umfassendes kreieren können. Zu eng ist der finanzielle Rahmen, zu kleingeistig die Zeit des 21. Jahrhunderts, als dass man noch grosse Würfe zulassen würde. Ute seufzt leise und biegt in die kleine Seitenstrasse ein, an der das Studio mit dem stolzen Namen “Kosmetik della Rosa” steht. Nina arbeitet im Erdgeschoss; die ehemalige Kneipe ist vom Vermieter umgebaut worden. Ninas Vater hat mitten im Raum eine Gipswand hochgezogen, um den Eingangsbereich mit der kleinen Garderobe und dem Tresen mit der Kasse vom eigentlichen Behandlungsbereich abzutrennen. Die kleine Suite ist geschmackvoll, aber einfach eingerichtet. Nina della Rosa hat Ute mal erklärt, sie böte auch Männerkosmetik an. Wäre das Studio romantischer eingerichtet, beispielsweise mit Kerzen (Nina liebt Kerzen), würde sie von einem Teil ihrer männlichen Kunden aber Uebergriffe riskieren. In einer klinisch-professionellen Umgebung drohe ihr diese Gefahr weniger. Nina della Rosa arbeitet allein.
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.