Gedankenverbrechen

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Gedankenverbrechen

Kai Beisswenger

Wieder überfallen mich erotische Gedanken. Es könnte kaum unpassender sein als jetzt. Ich sitze im Auto und die Vorbereitung auf meinen nächsten Kundenbesuch wird von Bildern unterbrochen, die ständig wiederkehren. Ein schwieriger Kunde erwartet eine optimale Lösung seines Problems. Dafür ist er bereit zu zahlen. Aber ich bin völlig unvorbereitet und kann mich nicht konzentrieren. Mist, ich habe die Ausfahrt verpaßt. Jetzt klingelt auch noch mein Handy. Rangehen kostet, falls sie mich erwischen. Doch sie erwischen mich nie. Ich habe keine Lust, mit irgendeinem Kunden über sein Scheißproblem zu reden. Das dämliche Klingeln hört nicht auf. Wer ruft mich an? König Kunde? Meine Frau? Meine Tochter? Mein kranker Vater? Meine senile Schwiegermutter? Nein, es ist Erwin, mein Tennispartner. Der kann warten. Wegen ihm sind wir im Halbfinale rausgeflogen. Er sollte seine Rückhand verbessern, das Arschloch. Nächstes Jahr spiele ich mit Heiner um die Clubmeisterschaft im Doppel. Ihr könnt mich jetzt alle mal. Da vorne, auf der linken Seite ist ein Café. Da ruh ich mich jetzt aus. Weshalb tue ich mir diesen Streß an? Für wen reiße ich mir den Arsch auf? Für mich, für meine Familie?
Vor fünf Jahren haben wir uns getrennt, aber ich kann diese Frau nicht vergessen. Immer wieder taucht sie aus dem Nichts auf. Dann mischen sich meine Phantasien mit den Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit. Obwohl wir uns stundenlang über Literatur, Gott und die Welt unterhalten konnten und uns dabei ganz nah waren, geht es in meinen Tagträumen nur um ein Thema: Sex.
Ich stehe vor ihrer Tür, klopfe, doch sie läßt mich warten. Ich klopfe wieder. Ich höre ihre verstellte Stimme. Mein Ohr habe ich an die Tür gepreßt. Leise ruft sie: „Nimm mich, ich will dich!“ „Mach auf, laß mich zu dir“, erwidere ich bebend. Dann passiert nichts. Ungeduldig hauche ich durchs Schlüsselloch: „Angie, bitte laß mich rein!“ Keine Antwort. Ich trommle mit beiden Fäusten an die Tür. Ich bin sicher, dass uns die Nachbarn hören, doch im Treppenhaus ist es still, zu still. Sie spricht wieder, doch ich kann sie kaum verstehen. Bruchstücke fliegen mir entgegen: ich bin so feucht, fessle mich, baisse-moi, ich will einen Orgasmus. „Ich kann dich nicht verstehen, öffne die Tür und ich mach alles, was du willst“, sprudelt es aus mir hervor, vielleicht eine kleine Idee zu laut. Hoffentlich hört mich die neugierige Hausmeisterin nicht, die alte vertrocknete Schlampe. Die Tür geht auf, einen Spalt, doch die blöde Kette trennt uns. Ihre Zunge kommt mir entgegen. Unsere Zungen begegnen sich. Meine Hand schlüpft durch den Spalt. Ich berühre ihre Brust, streiche über ihre Knospen - sie ist nackt. Ich höre Schritte. Angie schließt die Tür. Ich bleibe stehen, mit dem Rücken zur Treppe, damit der Störer im Treppenhaus meine Beule in der Jeans nicht sieht. Eine dicke Frau, ich schätze sie auf Mitte 60, bepackt mit zwei Alditüten, wackelt an mir vorbei. Ich drehe meinen Kopf und nicke ihr zu. Geh vorbei, du alte Ziege, denke ich. Dann hat uns die Stille wieder. „Liebes, mach sofort die Tür auf!“ Keine Reaktion. „Angie, sag was!“ Dann, nach einer Unendlichkeit, höre ich sie stöhnen. Wieder schnappe ich nur halbe Sätze auf: wenn du nicht kommst, besorg ich es mir selbst, nie bist du da, wenn ich dich brauche, verpiß dich doch, ich weiß eh am besten, wie ich komme...Ich reiß die Türklinke nach unten, die Tür geht auf, die Kette wurde gelöst, wo ist Angie? Schnurstracks renne ich ins Schlafzimmer. Die leuchtenden Kerzen auf dem Fußboden und die Rosenblüten auf dem Bett nehme ich nicht wahr. Ich sehe nur Angie, wie sie nackt auf dem Bett liegt, einer Göttin gleich, meine Göttin.
Verdammt, seit einer Viertelstunde sitze ich in diesem heruntergekommenen Omacafé und denke an Angie. In den letzten 5 Jahren, nachdem ich reumütig in den Schoß meiner Familie zurückgekehrt bin, verfolgt mich Angie fast jeden Tag. Ich komme nicht los von ihr. Ich liebe meine Frau, ich liebe meine Tochter. Ich hasse meine Arbeit, ich hasse mich für meine Gedanken. In der Ferne ruft ein Handy, mein Handy. Die Welt hat mich wieder. „Ja Herr Obermeier, ich stecke im Stau, bin in etwa 20 Minuten bei ihnen!“

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