Endlich kam der einzige Sonntag im Monat, an dem Johann frei hatte. Er liebte die würzige Landluft und hielt sich am liebsten auf dem Glasberg auf, der sich hinter dem Dorf erhob. Beim Glasberg handelte es sich eher um einen Hügel, auf dessen Kuppe eine riesige schattenspendende Eiche stand. In deren Schutz verspies Johann jeweils ein Stück Braten, das Krengers Frau Lisa ihm am Vorabend liebevoll zubereitete, und dazu trank er wertvollen Met aus einer Armeeflasche. Das war für ihn das höchste der Gefühle, hier konnte er sich entspannen, träumen und in der Welt versinken. An jenem Sonntag träumte er nur von Syrte.
Erst gegen Abend machte er sich auf den Rückweg und genoss den Anblick der Dächer seines Dorfs, die in der Abendsonne golden glitzerten. Meist ging er nicht auf direktem Weg zum Gut, auf dem er wohnte, sondern schlenderte durch Seitenstrassen und bewunderte die Auslagen der Künstler, die Glasdorf bevölkerten. Glaskunstwerk in allen Farben und Formen war zu bewundern; wohl nirgends auf der Welt gab es derart schöne Vasen, derart edle Gedecke und derart naturnah gestaltete Tiere wie in Glasdorf. Mit vor Stolz geschwellter Brust bog Johann, zufrieden mit sich und der Welt, um die nächste Ecke – und erstarrte. In Sebastian Zellwegers Laden stand ein lebensgrosses Pferd aus Glas. Es war vollkommen durchsichtig. Es wirkte derart authentisch, dass der Eindruck entstand, seine Nüstern würden beben. Bewegte sich da nicht auch der Schweif ein wenig…? In diesem Augenblick wusste Johann, dass er dieses Pferd besitzen musste. Seine paar Gulden, die er zur Seite gelegt hatte, würden aber kaum ausreichen für den Kauf dieses gewaltigen Kunstwerks. Das Glück kam ihm aber entgegen. Auch Reymund Krenger hatte nämlich einen Blick auf das durchsichtige Pferd geworfen und war genau so fasziniert wie sein Pferdeknecht Johann.
Das gläserne Pferd
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Das gläserne Pferd
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