Gloria

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Gloria

Gloria

Gunter Arentzen

***
Life and Death
energy and peace
if I stopped today it was fun
even the terrible pains that have burned me
and scarred my soul
It was worth it for having been allowed
to walk where I walked
Which is to hell on earth
Heaven on earth
back again, into, under, far in between
through it, in it, over and above it.
Gia Carangi, 1986.

***

Das Licht fiel durch die großen Fenster in den Raum. Kein wirklich strahlendes Licht,
denn der Herbst hatte bereits Einzug gehalten. Er war gekommen mit all seinen
Stürmen. Wind, der durch die Straßen pfiff und Regen. Laub auf dem Boden, braun
und schmierig. Eine triste Jahreszeit, welche einen durchaus depressiv stimmen
konnte. Vor allem nach einem Sommer voll Sonne und langen Tagen im Freibad der
Stadt.
Mein Blick wanderte durch die große Halle. Trennwände – zur Zeit offen stehend –
unterteilten sie in drei Bereiche. Studio A, Studio B und Studio C. Keine wirklich
großen Namen, doch zweckmäßig. Hinzu kamen Kaltlicht und Jupiterlampen, diverse
Schirme und Stative. Auch eine Mappe mit dem Terminplan des Tages lag aus.
In A würde eine Firma für Haushaltsgeräte Aufnahmen für einen neuen Schrubber
machen lassen. Das Modell sollte das Ding in verschiedenen Posen halten, dabei
debil in die Kamera grinsen und so tun, als sei Putzarbeit das reinste Vergnügen.
Schlimmer jedoch war die Art, wie sie den Stiel des Schrubbers halten sollte. Mal sah
es so aus, als wolle sie den Schwanz ihres Freundes masturbieren und mal, als sei sie
eine Hexe auf ihrem Weg zur Walpurgisnacht auf dem Brocken. Wir hatten versucht,
ein paar andere Motive vorzuschlagen, doch der Kreative der Firma hatte sich
unerbittlich gezeigt, war von seiner eigenen Größe überzeugt. Okay, wenn er es so
wollte...
Vielleicht konnte man die Aufnahmen verfremden und an einen Sexshop verkaufen.
Ein wenig Fotomontage, und aus dem Schrubber wurde schnell ein Dildo. Dort war
es egal, ob man masturbierte oder ritt...
In Studio B liefen die Aufnahmen für ein Versandhaus. Mode für jedes Alter,
präsentiert von Modells in jedem Alter. Von 17 bis 50 war alles vertreten. Ein paar
Profis, sehr viele Amateure. Kein Zuckerschlecken für die Photographen, die ein ums
andere mal verzweifelt den Kopf schüttelten, während die Frauen auf der kleinen
Plattform ihr Bestes gaben. Doch das war eben nicht immer genug. Und auch die
professionellen Modells schienen genervt, wenn ihre Kolleginnen eine Einstellung
versauten, weil sie eben den Kopf zu schief hielten und aussahen wie Crash-Test-
Dummies nach einer Versuchsreihe.
Drei Tage sollte dieses Shooting dauern. Drei lange Tage mit über 500 Aufnahmen.
Stress pur von früh bis spät. Mich nervte dieses Gewimmel schon jetzt.
Im letzten Studio fanden die Aufnahmen für eine neue Kampagne statt. Gib AIDS
keine Chance mit Mädchen, welche samt und sonders positiv waren. Gia Carangi war
das erste Modell mit dem Virus, doch bei weitem nicht das letzte. Es gab sogar eine
eigene Agentur, und ehrlich gesagt arbeitete ich mit diesen Leuten am liebsten.
Allein schon, weil sie nicht mehr dem Wahn erlagen, ihre Schönheit für die Ewigkeit
konservieren zu müssen. Sie wussten um den Virus in ihrem Körper und sie wussten
um die Vergänglichkeit ihrer Schönheit, ihrer Gesundheit und ihres Lebens. Sie waren
oft natürlicher, lockerer als all die kleinen Sternchen, welche sich auf den Laufstegen
der Welt tummelten und in den Studios vor den Kameras räkelten. Eine Erfahrung,
welche ich schon früh gemacht hatte. Damals, als ich noch selbst eine Photographin
war mit dem Finger am Auslöser. Und daran hatte sich auch nichts geändert, als
mich meine Bosse zur Aufnahmedirektorin machten, mir damit sehr viel
Verantwortung gaben und gleichzeitig auch sehr viel Spaß nahmen. Es ist
unvergleichlich, Menschen in Szene zu setzen. Sie zu dirigieren und hinterher den
Lohn der Mühe auf Hochglanzpapier zu sehen. Warum ich damals akzeptiert hatte –
keine Ahnung. Okay, da war der Lohn gewesen, welcher mich gereizt hatte. Und es
gab mir die Macht, Locations zu bestimmen und Termine. Wenn es draußen eisig
wurde, flogen wir eben mit der Crew nach Hawaii und absolvierten dort unsere
Sessions. Oder – noch besser – nach Chamonix, um ein wenig Schneegestöber
aufzunehmen. Dinge, welche mir noch vor zwei Jahren aufdiktiert worden waren.
Selbst als Chefphotographin hatte ich in solchen Dingen kein Mitspracherecht gehabt.
Inzwischen konnte ich diktieren, bezog jedoch Ralph – meinen ersten Mann am Set –
in die Auswahl der Locations ein. Ralph, der wahrscheinlich beste Photograph den ich
je gesehen hatte. Eine treue Seele und stockschwul. Im Jahr zuvor hatte ihn sein
Lover verlassen, war gegangen für einen jüngeren Mann. Nächte folgten, in denen
ich ihm Gesellschaft geleistet hatte, um ihm über die Trauer hinweg zu helfen. Lange
Gespräche über das Leben an sich und im Besonderen, Gin-Exzesse und durchnässte
Taschentücher. Eine Woche dauerte es, dann kam sein Lover zurück und die Wolken
wandelten sich von tristem Grau zu einem herrlichen Rosa. Liebe kann schön sein.
Irgendwann, so nahm ich mir damals vor, liebe ich auch mal.

Meine Gedanken wurden unterbrochen, denn das Leben kehrte ein in die Hallen.
Trennwände schlossen sich automatisch, Geschnatter auf dem Gang vor den Studios.
Die Modells kamen.
Ralph spazierte herein, in der Hand seine Kamera. Ein Grinsen huschte über sein
Gesicht, als er den Schrubber sah.
„Vielleicht sollten wir die Bilder einfach nach unseren Vorstellungen machen", schlug
er vor, doch seinem Gesicht war anzusehen, dass er es nicht ernst meinte. Der
Kunde bekam, was immer der Kunde wollte. Und wenn er ein einen Schrubber
masturbierendes Modell wollte, so bekam er auch das.
Lächelnd nickte ich, begrüßte die Frau, welche für diese Aufnahmen ausersehen war.
Etwas zausselig, denn der Wind hatte ihre Frisur ein wenig ruiniert. Doch es gab
nichts, was unsere Frisörin nicht in den Griff bekommen hätte. Auch die Visagistin
stand bereits in den Startlöchern, hielt den Schminkkoffer geöffnet. Ein wenig Puder
hier, ein wenig Rouge da und schon glänzte nichts mehr, erhielt die Person vor der
Kamera eine gesunde Gesichtsfarbe. Die Person hinter der Kamera hingegen
schwitzte und glänzte, ohne dass es jemanden interessierte.
Ralph hatte sich inzwischen aus dem Staub gemacht, plauderte wahrscheinlich mit
der Chefin des Versandhauses in Studio B. Wir kannten sie beide, und beide hegten
wir eine Abneigung gegen diese Schnepfe, die immer alles besser wusste und
meinen Photographen erklärte, wie sie ihen Job zu erledigen hatten. Normalerweise
tauchte sie nur am ersten Tag auf, gab Anweisungen, die niemanden wirklich
interessierten und verschwand spätestens um fünf. Doch diesmal wollte sie die
komplette Session überwachen, und meine Photographen nahmen bereits Baldrian,
um diese Tortur zu überstehen. Vielleicht war es angebracht, einen kleinen Bonus
auszuloben. Für besondere Geduld im Umgang mit der Schnepfe etwa.
Lächelnd verließ ich A, schlenderte über den kurzen Flur. Der Hausmeister lief mir
über den Weg, wie immer einen Kaugummi kauend und mit einem verschmitzten
Zwinkern im Auge. Auf ihn konnte man sich verlassen – egal wie spät es wurde und
selbst dann, wenn wir das Studio Sonntags brauchten. Er war da, schloss auf und
sorgte dafür, dass alle Birnen glühten und aus allen Steckdosen der Saft floss. Ja, ein
wirklich guter Mann.
In B waren die Aufnahmen bereits im Gange. Die Modells hatten kaum Anlaufzeit
gebraucht, waren nach einer kurzen Schminksitzung auf die Plattform gehüpft.
Ralph schaute seinen Kollegen über die Schulter, ohne sich einzumischen. Auch wenn
er den ein oder anderen Verbesserungsvorschlag gehabt hätte – er hielt sich zurück.
Es reichte schon, dass Schnepfe umher lief und irgendwelche blödsinnigen
Kommentare abgab. Aber immerhin konnte sie später behaupten, selbst die Session
überwacht und zum großen Erfolg der Bilder beigetragen zu haben. Und darauf
schien es ihr anzukommen. Andererseits zahlte das Modehaus einen großen Batzen
an uns, und dafür konnten wir uns ruhig drei Tage hindurch nerven lassen. Um so
mehr, als das sich Ralph und ich um C kümmerten. Mein und auch sein Favorit an
diesem Tag.
Mein Chefphotograph klopfte seinem Kollegen kurz auf die Schulter, motivierte ihn
so, während ich bereits durch die Tür verschwand, bevor mich Schnepfe sah und
aufforderte, ebenfalls anwesend zu sein. Früher hielt sie mich für inkompetent, heute
– nach meiner Beförderung – sah sie in mir einen weiblichen Guru des Studios.
Warum auch immer. Ralph schoss bessere Bilder, als es mir jemals möglich gewesen
war, und wenn einer den Titel Guru verdiente, dann er. Das sage ich hier ganz ohne
Neid, denn ich war froh, ihn als Nummer Eins zu haben. Wahrscheinlich wäre er ein
lausiger Studioleiter gewesen, doch als Photograph...
Auch in Studio C hatte das Leben begonnen, doch noch wimmelte es etwas
undiszipliniert. Ein paar Frauen saßen auf den Stühlen der Visagistinnen, während
andere in einer Ecke hockten und Wasser tranken. Es wurde geschnattert und
geplappert, manche lachten. Die Stimmung gelöst, die Atmosphäre locker. Perfekt
für ein anstrengendes Shooting.
Lächelnd begrüßte ich einige der Modells, kannte die Meisten bereits aus
vorangegangenen Sessions. Die wenigsten hatten sich verändert. Längere Haare
hier, ein wenig schlanker oder auch kräftiger dort.
Genüsslich nahm ich in meinem Stuhl Platz, ließ da Gewimmel an mir abtropfen.
Ralph tat es mir gleich, lud dabei jedoch seinen Film und schob sich ebenfalls einen
Kaugummi in die Backentasche. Dabei glitt sein Blick über die Szene. Eine blaue
Hintergrundwand, auf welche man später verschiedene Motive projizieren konnte.
Auch der Slogan – Gib AIDS keine Chance würde dort erscheinen. Gemeinsam mit
einem Gruppenfoto und dem Hinweis, dass es jeden erwischen konnte, man es
niemandem ansah. Eine gute Kampagne. Nicht neu, sondern ein Refresh. Dennoch
gut. Entsprechend niedrig hatten wir auch den Preis angesetzt, leisteten so unseren
Beitrag.
Schließlich waren die ersten Frauen fertig, erklommen die Plattform. Ein paar Close-
Ups standen auf dem Programm, und Ralph schraubte sein Spezialobjektiv auf.
Damit gelang es ihm, die Gesichter der Modells besonders weich erscheinen zu
lassen, edel. Zudem brachte die verwendete Linse die Hautfarbe besonders gut zur
Geltung.
Nicht von jedem Modell wurden Nahaufnahmen gebraucht. Manche der insgesamt
fast dreißig Personen sollten auch nur in vereinzelten Szenen mitwirken, andere gar
nur in der Schlusseinstellung. Dennoch waren sie bereits zugegen, schauten zu oder
nutzten die Gelegenheiten zu einem Plausch mit ihren Kolleginnen.
Es war eine rein weibliche Truppe – warum auch immer. Im Katalog der Agentur gab
es auch Männer, doch offenbar hatten sich die Verantwortlichen diesmal auf die
Ladies spezialisiert. Oder aber die Männer würden folgen, waren eventuell nicht
verfügbar. Auch nicht schlecht, denn dann gab es einen Folgeauftrag.
Die Aufnahmen wurden ernsthafter, verschiedene Hintergrundmotive eingespielt. Es
sollte ein wenig künstlich wirken, so eine Allegorie auf die künstliche Welt der
Schönheit schaffen. Hätten es die Verantwortlichen natürlicher gewollt, so wären wir
an jenem Tag in die Dominkanische Republik geflogen. Doch so blieb das Studio und
der Herbst sowie viele künstliche Einstellungen.
Die Aufnahmen gingen weiter. Gegen zwölf brachte mir meine Assistentin ein paar
Snacks, gegen eins Wasser. Inzwischen hatte sich die Luft in dem Studio aufgeheizt.
Öfters als noch zu Beginn mussten die Frauen geschminkt werden. Schweiß lief, doch
die Stimmung blieb gut. Es waren Profis, und das machte das Arbeiten mit ihnen so
angenehm.
Auch Ralph kam ins Schwitzen. Er hüpfte vor der Plattform herum, feuerte die
Modells an. Und sie gaben ihm, was er wollte. Mal ließ er sie lasziv aussehen, mal
brav. Irgendwie schaffte er es, das Beste aus den Frauen zu holen, und einmal mehr
freute ich mich, ihn an meiner Seite zu wissen. Das Herz des Studios, der Garant
unseres Erfolges. Einen solchen Mann würde ich niemals ziehen lassen, egal welche
Gehaltsforderungen er auch immer stellte. Er war jeden Pfennig wert, konnte es
auch mit den ganz Großen aufnahmen.
Allerdings war es weniger Loyalität zu meinem Arbeitgeber, welche mich so denken
ließ, sondern vielmehr der Gedanke, ein eigenes Studio zu eröffnen. Nicht hier im
verregneten Deutschland, sondern im sonnigen Kalifornien. Dort, wo Trends gesetzt
wurden und man wirklich in der Oberliga spielte. Oder in New York. Irgendwo – nur
nicht hier.
Eine Pause wurde eingelegt, und die Mädchen – in dieser Branche wird jedes Modell
als Mädchen bezeichnet, egal wie alt es auch immer ist – liefen hinaus, um sich ein
paar kühle Drinks zu holen.
„Gute Arbeit", murmelte ich, während Ralph neben mit Platz nahm, die Augen
schloss. Er brauchte diese kreativen Momente, tankte Kraft für den zweiten Teil des
Tages.
„Danke. Sie machen es mir leicht."
Nickend nippte ich an meinem kohlesäurefreien Wasser, griff nach den Mappen der
Mädchen. Überwiegend Setkarten. Alter, Name, Größe und Gewicht. Dazu Bilder in
den üblichen Posen. Viel Pflicht und wenig Kür ließen kaum Raum für eigene Ideen.
Das war weder erwünscht in diesem Job, noch nützlich. Modells sollten tun, was der
Photograph wollte. Sie wurden in Szene gesetzt. Das war eine eiserne Regel. Wer sie
nicht befolgte, ihr zuwider handelte, bekam keine Aufträge mehr. So einfach war
das.
Meine Assistentin erschien wieder, wedelte mit ein paar Papieren. Aufträge,
Angebote und ein persönlicher Brief an mich. Abwerbversuch eines anderen Studios
– dreist hierher geschickt. Allein schon aus Neugier beschloss ich, den Brief nicht
sofort in der Rundablage zu versenken, schenkte ihm ein wenig Beachtung. Das
Angebot passte, doch ich kannte dieses Studio. Man erzählte sich nur Schlechtes
darüber. Die Modells wurden ausgenutzt, die Photographen hielten sich für die Götter
der Linse. Nein, dann lieber ein bisschen weniger Lohn und dafür ein Klima, welches
Raum für Kreationen bot. Oder doch das eigene Studio, aufgebaut von dem
Ersparten auf dem Konto und den Reputationen sowie Verbindungen, welche man im
Laufe der Jahre geknüpft hatte. Einige Agenturen würden mit uns eine Partnerschaft
eingehen – da war ich mir sicher.

Abermals wurde ich schnöde aus meinen Gedanken gerissen, als sich die Tür öffnete
und eine schnatternde Schar erfrischter Modells den Raum stürmte. Viele hatte ich
bereits auf der Plattform gesehen, doch diesmal fiel mir ein Mädchen auf, welches
sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Nur flüchtig sah ich sie, bevor sie bei ihren
Taschen im hinteren Bereich bei den Jupiterlampen verschwand.
Kupferne Haare, eine kleine Stupsnase und ein Mund in genau der richtigen Größe.
Um zu lächeln. Um lasziv geöffnet mit der Kamera zu flirten. Um zu ... küssen.
Verflixt, diese Assoziation fiel mir ein, und fast schämte ich mich dafür. Plötzlich
schoss dieser Gedanke durch meinen Kopf. Niemals zuvor hatte ich ähnliche
Verbindungen hergestellt, wenn ich eine hübsche Frau oder einen erotischen Mann
gesehen hatte. Modells waren Modells, und ihr Job war es, schön zu sein. Auf viele
mögen sie darum besonders reizvoll wirken, doch wenn man den ganzen Tag nur
perfekte Schönheiten sieht, sehnt man sich nach dem Gewöhnlichen.
Doch dieses Mädchen hatte mein Interesse geweckt. Und das war um so
ungewöhnlicher, als dass mich noch niemals zuvor eine Frau interessiert hatte. Okay,
Männer auch nicht, doch dies lag wohl an dem Stress, den mein Job so brachte.
Nach einem Arbeitstag jenseits der zwölf Stunden braucht man keinen Partner, der
noch irgendwelche Anforderungen stellt. Da braucht man nur noch eine Wanne mit
heißem Wasser und ein Bett, in welchem man schlummern kann. That's it.
Neugierig griff ich nach den Setkarten, suchte jenes Mädchen. Schließlich hielt ich
ihre Unterlagen in Händen, überflog die Daten.
Gloria di Angelo
Born: 15.06.1977 – Rome / Italy
Height: 5'9
Dress Size: 6-8-10
Bust: 32
Waist: 22
Hips: 35
Shoes: 7,5
So ging es weiter. Eine perfekte Aufstellung über dieses Mädchen, die jedoch absolut
nichts aussagte. Schön, es reichte, um an gute Jobs zu kommen. Aber sonst? Nichts.
Welche Musik mochte sie, und welche Filme schaute sie sich an? Worüber lachte sie
und was bereitete ihr Angst?
Shit, warum interessierter es mich plötzlich? Die Mädchen kamen, wurden abgelichtet
und gingen wieder. Wenn man uns anschließend fragte, so sagten wir die Daten von
den Setkarten auf, und damit hatte es sich. Was ging uns der Charakter, der Mensch
hinter dem perfekten Make-up an? Nichts. Sie kamen, sie gingen – fertig. Zu viele in
einem Monat, um sich an Namen zu erinnern. Nur die Großen waren bekannt, all die
namenlosen Schönheiten um sie herum Dekoration. Und Gloria war im Grunde nichts
anderes, denn hier in Deutschland konnte sie kaum den Aufstieg schaffen. Nicht so.
Nicht in bei dieser Agentur und nicht bei solchen Jobs. Obwohl sie das Zeug dazu
hatte, mehr aus sich zu machen. Wenn ihr der Virus die Chance ließ, sie nicht aus
dem Rennen kickte, bevor das Spiel richtig begann. Doch auch dies war nicht meine
Sache. Wo und von wem sie sich vermarkten ließ, lag alleine bei ihr. Überhaupt ging
mich diese Person, ihr Schicksal oder was auch immer nichts an.
Oder doch? Waren nicht wir es, welche mit diesen Mädchen arbeiteten und genau
wussten, wie der Hase lief? Wussten wir nicht viel besser, worauf es ankam, was
richtig und was falsch war? Warum schwiegen wir auch dann, wenn wir das Ende
einer Karriere sahen? Kein Wort der Warnung, keine Hinweise. Verdammt, weil es
uns nichts anging. Weil wir unsere eigenen Probleme hatten und keine Seelsorger
waren. Weil es niemanden interessierte und wir unseren eigenen Erfolg höher
schätzten als jene, welche diesen Erfolg garantierten.
Dies alles wurde mir klar, als ich Ralph bei seinen Aufnahmen zusah. Es wurde mir
klar, und es kotzte mich an. Ein Widerwille entstand in mir, gepaart mit dem Wunsch,
es zukünftig besser zu machen. Warum hing ich noch immer in diesem Studio, bei
dieser Firma? Das Geld auf meinem Konto genügte, um den Ausbruch zu schaffen.
Weg von hier, in die Staaten. Ein paar Mädchen unter Vertrag nehmen, die
Modehäuser kontaktieren und ihnen Aufnahmen von uns schicken. Wie gesagt –
Ralph konnte es mit jedem in diesem Geschäft aufnehmen. Doch ich klebte auf
diesem Stuhl, träumte und philosophierte, statt etwas zu tun.
Mit einer unwirschen Geste verscheuchte ich meine Gedanken, konzentrierte mich
wieder auf das Shooting. Zwei Frauen hauchten einander einen Kuss auf die
Wangen. Verspielt, nicht wirklich erotisch. Es war ja eine Kampagne, kein Buch für
Orion oder Uhse.
Schließlich waren diese Mädchen fertig. Wieder eine kurze Pause, diesmal nur wenige
Minuten. Mein Photograph musste die Filme wechseln, einen Schluck trinken. Zudem
war nicht ganz klar, wer als nächstes auf die Plattform sollte. Erst sah es nach einem
Gruppenbild aus, doch dann entschloss sich Ralph dazu, erst die Einzelshootings zu
vollenden und zum Schluss die Szene mit dem Spruch aufzunehmen.
Er winkte, und aus dem Scatten des Hintergrundes löste sich Gloria, ging langsam
zu der Plattform. Ihre Bewegungen – geschmeidig. Langsam, sehr langsam und
verdammt erotisch bewegte sie sich. So, als sei sie sich ihrer Ausstrahlung
vollkommen bewusst.
Es gibt nicht viele Modells, die sich ihrer Ausstrahlung wirklich bewusst sind. Viele
wissen um ihre Schönheit und alle glauben, kleine Göttinnen zu sein. Doch
Ausstrahlung hat nichts mit Schönheit zu tun, und nur wenige Mädchen vereinen
beides.
Doch Gloria hatte all das. Beauty, Ausstrahlung und eine unglaubliche Portion Sex,
welche sie mit jedem Blick, jedem leichten Öffnen ihres Mundes verströmte.
Ich war – und ich schäme mich nicht, dies zuzugeben – fasziniert. Nein, mehr als
das. Sie zu sehen, machte mich an. Auch wenn ich selbst eine Frau war, so konnte
ich mich ihrer Erotik nicht entziehen. Meine Hände wurden feucht, als mich ihr Blick
traf, fast in meine Seele eindrang. Kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten
sich unsere Blicke, doch es genügte, um mein Herz schneller schlagen zu lassen.
Eine völlig überzogene, irrationale Reaktion meines Körpers. Und doch weder zu
leugnen noch abzustellen. Ganz im Gegenteil. Plötzlich erwachte der Wunsch, sie aus
der Nähe zu sehen. Sie in Szene zu setzen.
Mein logisches Denken klinkte aus, und noch bevor mein Gehirn reagieren konnte
stand ich neben Ralph, nahm ihm den Photoapparat aus der Hand. Überrascht
musterte er mich, nahm dann jedoch Platz. Ich war die Chefin, und wenn es mich
gelüstete, ein paar Aufnahmen zu machen, so konnte ich es tun. Ohne jemanden zu
fragen und ohne um Erlaubnis zu bitten.
„Hey Gloria", rief ich ihr zu, ging dabei in die Knie. Auch sie schien etwas überrascht,
schaute zu mir. Klick.
„Und jetzt dreh dich", rief ich ihr zu. Klick. Klick. Ihr Kleid flog etwas, während sie
sich um die eigene Achse drehte, dabei lachte wie ein kleines Mädchen. Verdammt,
mein Herz schlug noch schneller.
„Und jetzt öffne die Lippen. Zeig mir deine Zähne."
Sie tat es. Klick. Klick. Ein perfektes, perlweißes Gebiss und eine sanft-rosa Zunge,
welche verspielt über die Lippen strich. Mir wurde warm.
„Stütz den Kopf auf und schau mich an. Komm, schau genau zu mir."
Verdammt, dieses Mädchen wusste exakt, worauf es ankam. Das hier waren Bilder
jenseits der Kampagne. Wenn wir fertig waren, konnte sie sich überall bewerben.
Doch ich wollte mehr. Bisher hatte sie mir ihr Können gezeigt. Aber ich wollte ihre
Seele. Ich wollte das, was nicht in den Setkarten von ihr stand und nicht auf den
vielen Hochglanzbildern zu sehen war, welche sie bereits hatte anfertigen lassen.
Und mir wurde klar, dass ich es nicht zu sehen bekommen würde. Nicht jetzt und
nicht in dieser Atmosphäre. Fast verschämt stand ich wieder auf, steckte die Kamera
zurück auf das Stativ, lächelte Gloria zu. Sie erwiderte mein Lächeln, und kurz hatte
ich das Gefühl, dass sie mich verstand. Doch dies konnte auch ein Irrtum sein.
Ralph kehrte zurück, und in seinen Augen sah ich ein humoriges Blitzen, während ich
zu meinem Platz schlich, mich hineinfallen ließ und hoffte, die Welt möge mich
verschlingen. Mir war, als wüsste jeder um meine Empfindungen, während ich die
Kleine abgelichtet hatte. Eine Illusion, denn niemand konnte in mich hinein schauen.
Und doch war da dieses Gefühl der Unsicherheit, der Scham.
Das Shooting nahm seinen Lauf, Gloria wurde abgearbeitet und im Anschluss folgten
die Gruppenszenen. Doch all das ging an mir vorbei. Meine Gedanken blieben bei
dem Mädchen mit den funkelten, grünsten Augen, welche ich jemals gesehen hatte.
Sie blieben bei diesem kurzen Moment, als sich unsere Blicke trafen und auch bei
jener Szene, als ihre Zunge über die Lippen leckte.
Sie stand noch immer auf der Plattform, posierte nun mit den anderen Modells. Hin
und wieder warf ich ihr einen verstohlenen Blick zu, schaute jedoch weg, wenn sie
den Kopf hob. Ehrlich gesagt – ich fühlte und benahm mich wie ein Teenager.
Innerlich das Ende dieser Session herbeisehnend packte ich meine Taschen, zerriss
den Abwerbversuch und stapelte die Setkarten, so dass sie von den Mädchen
gefunden werden konnten. Warum hatten sie diese Dinger überhaupt mitgebracht?
Sie alle waren bei einer Agentur beschäftigt, mussten sich nicht mehr um einen Job
bemühen. Ihr Chef war ein guter Agent, der für sie sorgte. Nicht wirklich, aber
besser als viele andere, welche in ihren Modells nur Ware sahen.
Dennoch hatten sie die Karten mitgebracht, ausgelegt. Vielleicht, so überlegte ich,
suchten sie eine neue Bleibe. Oder es sollte die Chancen erhöhen, direkt über das
Studio einen Job zu erhalten. Der Weg lief nicht immer zuerst über die Agenturen,
das stimmte schon. Oft wurden wir im Vorfeld kontaktiert, suchten uns die Mädchen
aus. Vor allem dann, wenn die Auftaggeber ein Komplettpaket wollten, sich keine
Gedanken um Details machten.
Ich beschloss, die Karten einen Tag zu behalten, zu kopieren. Zwar waren die Bilder
dann etwas schlechter, doch als Grundkapital für mein Studio...
Und mit diesen Mädchen konnte man arbeiten, gar keine Frage. Professionell und
locker, an die Kamera gewöhnt und irgendwie dankbarer als andere Modells. Doch
dies konnte auch Einbildung sein. Vielleicht wollte ich etwas sehen, dass gar nicht da
war. So wie Glorias Blick und die Art, mich anzusehen. Ich hatte mich hinreißen
lassen, es auf sie übertragen.
Ralph beendete derweil die Aufnahmen, bedankte sich artig und lobte die Mädchen
für ihre hervorragende Arbeit. An der Art, wie er dies tat konnte man sehen, ob es
der Wahrheit entsprach oder gelogen war, lediglich der Höflichkeit diente. Hier war
es ihm ernst, und es gab für jedes Mädchen ein Bussi. Braver Ralph.
Die Modells kamen, verabschiedeten sich auch von mir und freuten sich, dass ich die
Karten einen Tag lang behalten wollte. Es erhöhte die Chancen auf einen nächsten
Job.
Auch Gloria kam, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Blick funkelte noch
immer, und ein leicht spöttisches Lächeln ummalte ihre Lippen.
„Ich brauche neue Fotos für meine Karte. Hast du Lust, noch ein paar Aufnahmen zu
machen?".
Sie wandte sich an mich – nicht an Ralph. Und ihre Stimme allein jagte mir einen
Schauer über den Rücken. Sanft, und doch fest und bestimmt. Sie schien genau zu
wissen, was sie wollte.
Ich starrte, und dieser Umstand ließ mich rot werden. Verflixt, ich starrte sie wirklich
an. Und ihr schien es zu gefallen, denn sie stand lässig vor mir, in ihrer
verwaschenen Jeans und dem etwas weiten Shirt, welches sie sich übergestreift
hatte. Die Daumen steckten in ihren Taschen, und nichts verriet Hoffnung, Ungeduld
oder was auch immer in diesem Moment in ihr vorging. Sie stand einfach da, lächelte
ein wenig kess und wartete, während ich starrte.
Ralph sprang in die Bresche, räusperte sich.
„Wenn du willst, kann ich die Bilder schießen. Hab ohnehin nichts vor."
Genau dieser Satz war es, der mich endlich reagieren ließ. Kurz entschlossen nahm
ich ihm die Kamera ab, griff nach einem neuen Film.
„Gib mir zehn Minuten", murmelte ich zu Gloria gewandt. „Ich will nur schnell einen
Müsliriegel essen. Du kannst dich ja schon mal umziehen."
Das Mädchen nickte, verschwand wieder im Hintergrund. Das Geräusch eines sich
öffnenden Reißverschlusses schwang durch die Halle, und ich stellte mir vor, wie sie
just in diesem Moment ihre Jeans abstreifte, nur mit einem Slip bekleidet im
Halbdunkel stand und die geeigneten Kleider suchte.
Mein Photograph grinste derweil wieder, sammelte die verschossenen Filme ein und
packte sie zurück in die Hüllen. Sie würden an das Labor gehen, und erst in zwei
Tagen vorliegen. Dann begann die Vorauswahl, welche wir an die Werbeagentur
schickten, die mit dieser Kampagne betraut worden war. Diese trafen letztlich die
endgültige Entscheidung.
„Na, dann wünsche ich euch noch viel Spaß", griente er, winkte kurz und
verschwand. In diesem Moment wurde mir klar, dass wir allein waren. Auch die
anderen Studios hatten längst die Schotten geschlossen. Draußen ging die
herbstliche Sonne unter, und dieses Licht schien wie geschaffen für ein
stimmungsvolles Intro. Schließlich war es an mir, die Pflicht aufzulockern. Close-Up,
Seitenansichten, verspielt und ernst. Ein Modell musste alles können und die
Setkarten mussten alles zeigen. Ein Repertoire, welches man als Photographin im
ersten Jahr lernt. Immer die gleichen Posen, immer die gleichen Einstellungen.
Setkarten können tödlich langweilig sein. Zudem bringt es nichts, wenn man sich als
Photographin gehen lässt. Das Modell muss mit diesen Bildern leben. Also bleibt nur,
die Form zu wahren. So wenig wie man sich bei Passbildern gehen lassen kann, so
wenig kann man es bei Setkarten.
Andererseits gab es kein Gesetz, welches einem verbot, über die Aufnahmen für die
Karten hinaus aktiv zu werden. Wie gesagt, ein stimmungsvolles Intro – als Kür
sozusagen – auf welches die Pflicht folgte und mit einem gewagten Finish endete.
Ja, so wollte ich es angehen.
Inzwischen hatte Gloria die Plattform betreten, hockte im Schneidersitz in der Mitte
des Rund und wartete auf mich. Sie trug eine zerschlissene Jeans und ein weites,
schlabberiges Shirt. Ihre Augen waren unverwandt auf mich gerichtet, schienen mich
abzuschätzen. Und ja – ich fühlte mich unter diesen Blicken unwohl, wurde etwas
fahrig. Shit. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Dass sie mir anmerkte, wie groß die
Unsicherheit in mir war, welche sie auslöste. Die Verwirrung tief in mir, welche ihre
Nähe, ihre Blicke auslösten. Meine Reaktionen – sowohl körperlich als auch mental –
ausgedrückt in schwitzigen Händen und einem wesentlich schnelleren Puls.
Niemals zuvor hatte ich darüber nachgedacht, mich niemals auch nur mit der
hypothetischen Möglichkeit befasst, mehr für eine Frau empfinden zu können als
reine Freundschaft. Sexuelle Attraktionen – wenn überhaupt – gingen für mich stets
nur von Männern aus. Ein kleiner Fick hier, ein langes Weekend da. Das war es auch
schon. Er kam, ich kam, er ging, ich ging. Das war alles. Kein wirkliches Sexleben,
aber auch keine Zeit, es zu bedauern. Der Stress fraß alles andere.
Und jetzt kniete ich vor der Plattform, schaute in diese Funkelaugen und wünschte
mir, mehr über dieses Wesen in Erfahrung zu bringen.
Ihre Mähne wirkte so wild und ungebändigt wie ihre Augen, welche tief in meine
Seele einzudringen schienen. Ihre Haut – makellos und hell. Zu hell im Grunde, doch
sie bildete einen wunderbaren Kontrast zu ihren Lippen, welche in einem matten Rot
schimmerten.
„Bleib so". Klick.
Ich schoss die ersten Photos, ging um sie herum. Ihr Kopf drehte sich etwas,
während ich mich bemühte, mit meiner Kamera eine Beziehung zu ihr aufzubauen.
Sie musste mich mögen, akzeptieren und mir vertrauen, damit die Aufnahmen
gelangen. Sonst wirkten die Bilder steril, ohne Geist. Tödlich bei Setkarten.
„Und jetzt zeig mir ein kleines Lächeln", forderte ich sie auf. „Schüchtern, aber echt."
Klick. Klick. Klick.
Sie gab mir das Lächeln, würzte es zum Abschluss mit einer Prise Ironie. Das Flirten
mit der Kamera begann – ich hatte meine Beziehung.
„Und jetzt hoch mit dir. Dreh dich etwas und schau dann zu mir."
Klick.
„Und jetzt streck dich. Die Arme hinter den Kopf, den Blick zur Decke." Sie tat es, das
Shirt hob sich etwas, ließ ein wenig den flachen Bauch sehen, während sich ihre
Brüste hoben. Klick. Klick. Und noch einmal. Klick.
Eine Aufnahme nach der anderen landete im Kasten, während das Mädchen wirklich
alles gab. Sie wurde wilder mit jedem Aufleuchten des Blitzes, schien sich in den
Posen und Szenen zu verlieren. Selbstvergessen wuschelte sie sich das Haar, schloss
dabei die Augen. Klick.
Gloria mit geöffneten Lippen und feuchter Zunge. Klick.
Sie auf allen Vieren, wie eine Raubkatze den Kopf im Nacken. Klick.
Ein Film, dann zwei, drei. Setkarten? Nicht wirklich. Es war ein selbstvergessenes
Hingeben.
Vielleicht hatte sie es sich so erhofft. Vielleicht ließ sie sich auch fallen, ohne zu
denken. Oder aber es war alles Teil eines Plans mit einem für mich noch
undurchsichtigen Ziel. Doch wozu denken, wenn man besser fühlen sollte? Wozu
analysieren, wenn sich die Chance bot, sich in einer Situation zu verlieren? Gloria war
da, und ich war da, und auch diese Kamera. Es waren die besten Bilder meines
Lebens. Ich spürte es. Niemals waren Aufnahmen von mir intensiver, und niemals
wieder würden sie diese Intensität erreichen. Nicht, wenn ich in diesem Studio blieb,
bei diesem Job. Gott, Gloria schaffte es, mein Innerstes auf den Kopf zu stellen und
dennoch für absolute Klarheit zu sorgen. Ich musste hier raus. Ich musste tun, was
ich am besten konnte. Ich musste diese Magie des Moments einfangen, konservieren
und in eine andere Zeit transportieren. In eine Zeit, in der ich keine Angestellte mehr
war, sondern eine freischaffende Künstlerin. Ja, das war es. Besser als ein eigenes
Studio. Zur Hölle mit all dem und zur Hölle mit Ralph. Ich war besser. Das spürte ich
in diesem Moment. Und Gloria wusste es, warf den Kopf in den Nacken und grinste
so obszön, dass ich die Erotik in dieser Geste fast körperlich spürte.
Es war ein Rausch – entfacht von dem Mädchen auf der Plattform und auch von ihr
beendet. Plötzlich sackte sie zusammen, hielt für ein paar Sekunden die Augen
geschlossen, bevor sie mich wieder mit ihrem unheimlichen, tiefgehenden Blick
fixierte. Ich kniete vor ihr auf dem Boden, die Kamera am Auge und doch über das
Gerät hinwegschauend. Ruhe kehrte ein. Eine fast beängstigende Ruhe, welche sich
mit dem trüben Licht des hereinbrechenden Abends mischte. Nur die Jupiterlampen
und das Kaltlicht störte diese Stimmung, welche sich dennoch ihren Weg bahnte, sich
zwischen uns ausbreitete.
Gloria schob ihre Arme vor, kam auf allen Vieren näher. Geschmeidig wie eine Katze
und ebenso verführerisch.
Gebannt schaute ich ihr zu, unfähig, erneut den Auslöser zu drücken. So wie ein
Kaninchen die Schlange anstarrt, welche es fressen will, so starrte ich zu dem Modell.
Reglos, fasziniert und längst zu tief in ihrem Bann, um mich daraus lösen zu können.
Schließlich, nach Sekunden, welche mir wie Stunden erschienen, streifte mich ihr
minziger Atem, befand sich ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von dem meinen
entfernt. Jetzt, aus der Nähe konnte ich sehen, dass ihre Haut so makellos war, wie
sie auf Distanz gewirkt hatte. Eine perfekte Schönheit. Ein Modell, welches nicht nach
Deutschland, nicht in dieses Studio gehörte. Sie sollte...
Scheiße, es war nicht der Moment, darüber zu philosphieren. Es war nicht der
Augenblick, über irgend etwas nachzudenken. Es war der Moment, das Leben zu
spüren. Mich ihrem Blick zu ergeben. Einfach abzuschalten.
Noch einmal kam sie näher, legte ihre Hände auf meine Schulter und drückte mich
zurück. Ich fiel auf den Rücken, ließ die Kamera dabei zu Boden gleiten, während sie
über mich kroch, ihre Hände neben meinem Kopf abstützte. Niemals war ich einer
Frau so nahe wie in diesem Moment. Falsch. Niemals war ich einem Menschen so
nahe. Hier ging es nicht mehr um Sex. Hier ging es um mehr. Um viel mehr.
„Der Virus kann nicht durch einen Kuss übertragen werden. Auch nicht, wenn man
richtig küsst."
Ihre Worte – ein Verlangen, ein Versprechen, ein Flehen und eine nüchterne
Information zugleich. Ein Satz – so vielschichtig wie die Person, welche mich in die
Defensive gedrängt hatte, nun ihren Kopf etwas senkte. So, als würde sie keinen
Widerstand erwarten. Und verflixt – sie hatte verdammt Recht mit dieser
Einschätzung. Auch ich wollte diesen Kuss. Egal, wie hoch der Preis auch immer
gewesen wäre. Selbst wenn die Gefahr bestanden hätte, dass ich mir den Virus
einfing. Längst jenseits aller Vernunft sehnte sich mein Innerstes nach der
Berührung, nach dem Augenblick, wenn sich unsere Lippen trafen, unsere Zungen
ein sanftes, zugleich auch wildes Spiel begannen.
Sie schmeckte nach Minze, kühl wie der Tau am Abend. Zugleich entzündete dieser
Kuss jedoch ein Feuer in mir, welches durch nichts zu stillen war. Durch nichts –
außer durch weitere Küsse, Berührungen und...
Meine Hände fuhren unter ihr Shirt, schoben es über ihren Kopf. Längst hatten sich
unsere Blicke gefunden, schauten wir einander an und sahen Lust und den Wunsch
nach mehr im Gesicht des jeweils anderen.
Ihre Haut fühlte sich gut an. Sanfter als die eines Mannes, viel weicher und
gepflegter. Es war herrlich, meine Hände über sie hinwegstreichen zu lassen, die
Wirbelsäule entlang. Wieder küssten wir uns, leidenschaftlicher. Ihre Hände fuhren
durch meine Haare, wuschelten sie. Jede noch so kleine Berührung löste Schauer
aus, welche durch meinen Körper rieselten, sich in pure Lust verwandelte. Ich wollte
mehr. Jetzt.
Energisch griff ich zu, drehte sie auf den Rücken und begann, ihre Brüste zu
liebkosen. Ein Seufzen entfloh ihrem Mund, während sie die Augen schloss, sich mir
hingab.
Noch nie hatte ich eine Frau geliebt, und doch war alles so natürlich, so
selbstverständlich. Ihre Jeans, welche zur Seite flog. Ihr Slip, welcher ihre Feuchte
und ihren Duft nur noch unzulänglich verbergen konnte. Der Moment, als ich ihren
Geschmack in mich aufsog, mich zwischen ihren langen, schlanken Beinen verlor. Die
Lust, welche wir uns schenkten und der Augenblick höchster Erfüllung in ihrem Arm.
Ich liebte sie. Wir liebten uns. Ich liebe sie noch immer. Weit über das Körperliche
hinaus. Sie war das kleine Mädchen in meinem Arm und die wilde Bestie, welche sich
nahm, was sie wollte. Durch die Täler der Lust hinauf auf die Gipfel der Ekstase bis
hinein in die tiefsten Abgründe absoluter Erschöpfung.
Später – längst war die Sonne versunken – lagen wir nebeneinander, starrten in das
Kaltlicht.
Die Angst kam. Wir hatten Dinge getan, welche wir besser nicht getan hätten. Sex,
der mich das Leben kosten konnte.
Gloria lag in meinem Arm, Tränen liefen über ihre Wangen. Angst vor
Zurückweisung, vor Vorwürfen, wie sie mir später erzählte. Doch nichts wäre weiter
gewesen, als dies. Auch wenn sich in mir bereits an jenem Abend die Gewissheit
verdichtete, einen Fehler begangen zu haben. Einen Fehler, der sich eines Tages
rächen würde. Doch zunächst war es wichtig, den Moment zu genießen. Und dieser
Moment enthielt alle Liebe, welche zu empfinden in der Lage war. Ja, ich liebte.
Vielleicht zum ersten mal in meinem Leben. Und dieses Gefühl wollte ich um keinen
Preis aufgeben.

Gloria starb drei Jahre später. Bis zu ihrem Ende waren wir zusammen, lebten in New
York. Ich als freischaffende Photographin, sie als Modell. So lange zumindest, bis der
Virus ihren Körper angriff. Und auch in den letzten Wochen machte ich noch
Aufnahmen von ihr, schaffte es, ihre Schönheit für die Ewigkeit zu konservieren.
Wir haben niemals aufgehört, einander zu lieben. Der Tod mag das Leben beenden –
Liebe jedoch kann er nicht zerstören. Dies zumindest glaube und hoffe ich. Der
Moment wird kommen, in dem wir einander wieder halten.
Spätesten dann, wenn auch ich den Kampf gegen jene Bestie in mir verliere, welche
mich schon jetzt auszehrt. In einem Monat. Oder zwei. Drei. Wer weiß?
Ende

***
Als Homage an Gia Marie Carangi (29.01.1960 – 18.11.1986) – Unvergessen über den Tod hinaus.
***

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