Heilige und Hure

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Heilige und Hure

Heilige und Hure

T. D. Rosari


Vor der Tür stehen meine Triebe, Sehnsüchte und Begierden. „Du vernachlässigst uns!“, höre ich sie lamentieren. Die Triebe schenken sich ungefragt einen Scotch ein, zünden sich eine Zigarette an und setzen sich entspannt in meinen Ohrensessel. Die Sehnsüchte kramen in der Schublade mit meinen Sextoys, schieben sich genüsslich einen Dildo zwischen die Schenkel und stopfen sich mit der anderen Hand Pommes ins Maul. Und die Begierden studieren meinen Kleiderschrank. Die Wahl fällt auf hohe Stiefel, ordinär glänzende, hautenge Vinyl-Pants und ein tief ausgeschnittenes Top.
„Du weißt, dass es wieder einmal Zeit wird!“, ermahnen mich meine Begierden.
„Wir haben das Zugticket gekauft und das Hotel gebucht!“, erklären meine Triebe.
„Nate und die Kleine sind bei den Großeltern!“, verkünden meine Sehnsüchte.
Die Vernunft ruft mir panisch ins Ohr: „Höre nicht auf sie! Sie wollen, dass du dich gehen lässt! Diese Impulse sind böse, sie schaden dir! Lass dich nicht verführen! Das hast du nicht nötig!“
Und ob ich verführt werden will. Und nötig habe ich es auch. Sehr sogar. Ich nehme die Vernunft von meiner Schulter und stecke sie in die versperrbare Schublade. „Bis Montag!“, sage ich noch und drehe den kleinen Schlüssel herum. Dann packe ich meine Sachen. Es geht in die fremde Stadt.
Im Hotel geschieht die Verwandlung. Aus der Heiligen wird eine Hure. Jetzt bin ich es, die Overknees trägt, die Netzstrümpfe, den Ledermini mit dem glitzernden Gürtel und das enge Top. Das Makeup ist dieses Mal, dieses eine Mal, nicht dezent. Die Lippen sind rot. Die Finger- und Zehennägel ebenso. Wimpern und Augenbrauen tiefschwarz. Es geht in den Klub. Meine Begierden, Sehnsüchte und Triebe begleiten mich.
Im Nachtklub gibt es keine Zurückhaltung mehr.
Ich tanze die ganze Nacht. Die Beats stampfen meine Impulskontrolle in den Boden. Ich flirte mit unzähligen Männern. Ständig werde ich berührt. Begehrliche Blicke, eindeutige Komplimente.

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Angenehm berührt

schreibt Thunders

Ich glaube der vermutete "unangenehme Gefühlszustand" betrifft weniger die Verwunderung über die beschriebenen Exzesse im Umfeld der Spezies Leitende Angestellte/ Spitzensatz-Steuerzahler. Bei der männlichen Variante würde ein solches Doppelleben ja kaum überraschen. Wie auch immer; mir gefällt diese kurze Geschichte über den befreienden Ausbruch aus dem Alltag einer selbstbewussten Frau. Vielen Dank dafür! LG Andreas

Gedichte auf den Leib geschrieben