Heilige und Hure

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Heilige und Hure

Heilige und Hure

T. D. Rosari

Ich bin brav und spiele das Spiel mit. Und meistens tu ich das sogar ganz gerne.
Früh morgens stehe ich auf und mache das Frühstück. Ich kümmere mich um die Kindergartentasche der Kleinen. Ich interessiere mich für Nates Musik und das gebastelte Kastanientier der kleinen Lady. Leider gefällt der jungen Dame das weiße T-Shirt mit dem Glitzer-Einhorn nicht. Heute muss es das Shirt mit der rosa Fee sein. Alles kein Problem.
Ich nehme nicht den Jaguar, sondern das kleine Elektroauto. Ich lasse Kinder und ältere Menschen über den Schutzweg gehen und halte mich penibel an jede 30er-Zone. Mit Engelsgeduld erkläre ich meinen Mitarbeiter*Innen (jawohl, manchmal wird sogar brav gegendert!), dass sie nicht nur für Kaffeetrinken, Zigarettenpausen, das Verleumden von gerade nicht anwesenden Kollegen und belanglosen Smalltalk bezahlt werden. Und mache dabei sogar ein freundliches Gesicht. Ich bemühe mich also, bin angepasst und achte auf die Bedürfnisse meiner werten Mitmenschen.
Ich achte auch auf mich und meine Umwelt. Nicht mehr als ein Drink am Tag. Keine Zigaretten. Jeden Tag in der Mittagpause mache ich meine 7500 Schritte. Manchmal gehe ich sogar ins Fitnesscenter oder zum Joggen. In der Firma und zu Hause beziehen wir Ökostrom und trinken Fair-Trade-Kaffee. Wenn wir fliegen, werden CO²-Emissionen kompensiert. Mindestens zweimal in der Woche wird auf Fleisch verzichtet. Wir spenden für die Kinderhilfe. Ich bin eine Heilige. Die Vernunft, die einen Stammplatz auf meiner Schulter hat und mir ins Ohr flüstert, was zu tun ist, klatscht zufrieden in die Hände.
Doch dann, nach einer gewissen Zeit, klopft jemand an der Tür. Ich weiß natürlich, wer zu Besuch kommt. Zuerst versuche ich, das Klopfen zu ignorieren. Doch das Klopfen verstummt nicht. Es wird fordernder, penetranter. Irgendwann ist es so ohrenbetäubend laut, dass ich die Tür öffne. Es ist ein Akt der Notwehr, ich kann nichts dafür.

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Angenehm berührt

schreibt Thunders

Ich glaube der vermutete "unangenehme Gefühlszustand" betrifft weniger die Verwunderung über die beschriebenen Exzesse im Umfeld der Spezies Leitende Angestellte/ Spitzensatz-Steuerzahler. Bei der männlichen Variante würde ein solches Doppelleben ja kaum überraschen. Wie auch immer; mir gefällt diese kurze Geschichte über den befreienden Ausbruch aus dem Alltag einer selbstbewussten Frau. Vielen Dank dafür! LG Andreas

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