Meine Frau Bettina und ich sind seit fünfzehn Jahren glücklich verheiratet und immer noch verliebt ineinander. Wir haben unser Leben auch ohne Kinder wunderbar gestalten können, mehr Glück gehabt, als wir es zu hoffen gewagt hatten. Dennoch locken auch gelegentlich mal Versuchungen, wie zum Beispiel damals im achten Jahr unserer Ehe. Dazu muss ich erwähnen, dass meine Eltern eine vermietete Eigentumswohnung in Bremen haben, bei der ich sie schon seit einigen Jahren auf der Eigentümerversammlung vertrete. Diese ist immer an einem Samstagvormittag im Juni. Um Stress zu vermeiden, reise ich stets am Freitagnachmittag per Bahn an und fahre gleich am Samstagmittag nach der Versammlung zurück. Bettina hat mich bis dahin nur zwei Mal begleitet, denn der Kurztrip und die Versammlung sind für sie eher uninteressant.
Ich übernachte der Einfachheit halber immer in dem kleinen Hotel einer großen Kette in der Nähe des Bahnhofes. So ist es auch dieses Mal. Nachdem ich die Formalitäten beim Einchecken erledigt habe, stelle ich nur kurz die Reisetasche im Zimmer ab. Mir fällt ein, dass ich Bettina heute nicht mehr anzurufen brauche, wie ich es sonst immer mache, denn sie will die Gelegenheit nutzen und einen Mädelsabend mit ihren Freundinnen verbringen. So mache ich mich gleich auf den Weg zur Wohnung, um mir einen Eindruck zu verschaffen, den ich bei der Versammlung vorbringen kann. Da alles in Ordnung ist, begebe ich mich bald wieder auf den Fußweg ins Hotel, esse aber erst noch eine Kleinigkeit in einem libanesischen Restaurant. In meinem Zimmer angekommen, muss ich unbedingt duschen und mir frische Sachen anziehen, denn es ist warm, und ich bin doch etwas verschwitzt. Kurz entschlossen nehme ich mir meine Zeitschrift und beschließe, die Hotelbar aufzusuchen, ich habe nämlich keine Lust, den ganzen Abend vor der Glotze abzuhängen.
Da es ein kleines Hotel ist, grenzt die Bar gleich an die Rezeption, sodass Barmann und Rezeptionist ein und dieselbe Person sind. Die Auslastung ist gerade wohl nicht besonders hoch, denn es herrscht Leere an der Rezeption. Nur in der angrenzenden Bar sind zwei Gäste. Ganz hinten auf dem letzten Hocker, dort, wo der Tresen an der stirnseitigen Wand endet, sitzt ein älterer Herr im Sommeranzug vor einem Bier und liest Zeitung. Die beiden Hocker neben ihm sind frei, doch auf dem nächsten Hocker sitzt sie, die Pferdeschwanz-Lady! Mein Blick bleibt magnetisch an dieser Frau haften, die ihr dichtes, brünettes Haar zu einem hoch angesetzten Pferdeschwanz gebunden hat. Ihr Teint ist ebenmäßig, nicht zu hell und nicht zu dunkel. Ich schätze, sie hat etwa mein Alter, also Ende dreißig. Sie trägt eine Brille und ist in ein Buch vertieft, das vor ihr auf dem Tresen liegt. Daneben steht ein halb ausgetrunkenes Glas mit Weißwein.
Hotelbekanntschaften
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