Die Illusion

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Die Illusion

Die Illusion

Yupag Chinasky

Er hatte, um seinem Alltag für einige Zeit zu entkommen, eine Schiffsfahrt gebucht. Eine Woche in einem komfortablen, schwimmenden Hotel. Es war der pure Luxus, von den geräumigen Kabinen angefangen, über den dezenten Charme der mit Mahagoniholz getäfelten Bar, den anspruchsvollen Wellnessbereich mit Sauna, Fitnessraum und Whirlpool unter freiem Himmel bis zu dem Speisesaal mit Meeresblick, der Tischwäsche aus cremefarbenem Leinen, dem aufmerksamen Personal und den exzellenten Mahlzeiten. Es war kein profanes Linienschiff, sondern ein Kreuzfahrschiff der gehobenen Klasse und für viele der Passagiere war es die Verwirklichung eines Traums. Eines Traums von einem Schlaraffenland auf Zeit, von entschleunigtem Leben, vom Reisen um des Reisens willen.

Das Schiff glitt durch eine Küstenlandschaft mit gewundenen Fjorden, einsamen Inseln und waldbestandenen Ufern. Hie und da tauchten bunte Holzhäuser mit Fahnenmast und Anlegesteg auf und etwas größere Ansiedlungen mit einem langen Pier und einem großen Lagerhaus daneben. Auf dem Wasser begegneten ihnen die kleinen Boote der Fischer und zuweilen die großen Pötte der Hurtigruten. Zwischen den Inseln bot sich der freie Blick auf das weite Meer, das sich tiefblau und silberfarben, dann wieder grau und schwarz, manchmal spiegelglatt und dann wieder mäßig bewegt zeigte. Und über allem der weite, klare, nordische Himmel. Sie hatten Glück mit dem Wetter zu dieser Jahreszeit, es war sommerlich obwohl bereits Ende September. Das Reiseprogramm bot reichlich Gelegenheit und Zeit diese großartige Landschaft zu erleben, nicht nur im Vorbeigleiten, jeden Tag war ein Landgang an einem interessanten Ort eingeplant. Trotzdem diente diese Reise nicht primär der Fortbewegung von einem Ort zum andern, auch nicht der Erweiterung der geografischen und landeskundlichen Erkenntnisse und selbst der Genuss des perfekten Komforts stand nicht im Mittelpunkt, nein, sie bot einer ausreichend vermögenden Kundschaft das Gefühl von Einmaligkeit, man war unter sich, in angemessener Gesellschaft.

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