Im Gedränge

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Im Gedränge

Im Gedränge

Yupag Chinasky

Seit ein paar Stunden ist er durch die Stadt gewandert, den breiten Boulevard entlang, quer durch enge Gassen, ist dabei auf noch engere Plätze gestoßen. Er hat die fremdartige Atmosphäre in sich aufgenommen, die Häuser, die Gärten, die Mauern, die Palmen und er hat die Menschen beobachtet. Eilige, die rasch einem Ziel zu strebten, Müßiggänger, die an Ecken stehen, sich an Mauern lehnen und scheinbar nur die Zeit tot schlagen. Auf seiner Wanderung hat er zahlreiche Bilder aufgenommen, alltägliche Szenen, Kleinigkeiten am Rande, Wohnhäuser, Absteigen, Restaurants, mächtige Hängeschlösser vor eisenbeschlagenen Türen oder die Schaufenster von Geschäften. Als er vor einer hübsch dekorierten Boutique stehen bleibt und die fremdländischen, leicht angenagten Schaufensterpuppen aufnimmt, kommt die Besitzerin aus dem Laden geschossen und stellt ihn zur Rede. Was ihm einfiele, ihr Schaufenster aufzunehmen, ihre Ideen zu klauen, ihre Mode zu kopieren. Beschuldigungen und Beschimpfungen prasseln auf ihn ein. Als er endlich auch zu Wort kommt und ihr sagt, dass das alles nicht zuträfe, dass er ein harmloser Tourist sei, dem nur die exotischen Puppen so gefallen und der mit Mode nichts im Sinn habe, beruhigte sie sich rasch. In einem klärenden Gespräch erfährt er, dass es Gang und Gäbe sei, die Fenster der Konkurrenz auszuspionieren und gute Ideen zu übernehmen. Dass das Fotografieren von Menschen in diesem Land nicht unproblematisch ist, hatte er schon mehrfach gemerkt, wenn er böse Blicke erntete oder abrupte Abwendungen, sobald er die Kamera auf Menschen richtete. Dass aber auch das Fotorafieren von Gegenständen, von toten Sachen problematisch sein könnte, hat er bisher nicht gewusst. Bei den Menschen hat er sich angewöhnt, die meisten Bilder mit dem Teleobjektiv aus sicherer Entfernung zu machen. Das ersparte zwar Ärger, aber meistens sah man es den Bildern an, weil die direkte Nähe, der unmittelbare Kontakt zu den „Opfern“ fehlte. Viele Bilder machte er aus dem Fenster des Busses, eine andere probate Möglichkeit sich den Menschen hier fotografisch zu nähern. Den Menschen, die ihn wegen ihres Aussehens, ihrer Exotik, ihrer Einmaligkeit oder ihrer Schönheit reizten.

Durch das viele laufen müde geworden, setzt er sich auf die Terrasse eines der Cafés am Grand Boulevard und bestellt einen Tee. An einem der Nebentische sitzt ein alter Mann. Er bildet mit seinem zerfurchten Gesicht, dem langen Bart, der weißen Jelaba und dem kunstvoll gewickelten Turban einen interessanten Kontrast zu dem nüchternen, modernen Café. Diesen Eindruck will er festhalten, dieses Bild muss er unbedingt haben. Er nimmt die Kamera aus der Tasche, fummelt anscheinend gedankenverloren an ihr herum und richtet sie wie zufällig auf den alten Mann. Doch der sieht schon die ganze Zeit zu ihm hin und merkt, was er vor hat. Bevor er noch abdrücken kann, beginnt zu schimpfen und mit seinem Krückstock, den er zwischen die Beinen gestellt hat und auf den er seine Hände stützt, wütend auf den Boden zu stampfen. Erschrocken unterläßt der Ertappte den Versuch, den malerischen Alten zu fotografieren und steckt die Kamera wieder ein. Später, nach zwei weiteren Stunden Fußmarschs durch die Altstadt, die Märkte, die Souks, an den zahllosen winzigen Geschäften mit den bunten Auslagen und den um Aufmerksamkeit heischenden Händlern vorbei, stellt er es geschickter an. Wieder sitzt er in einem Café, diesmal am Rande des Souks. Auf der anderen Straßenseite ist eine große, schmutzig weiße Fläche, eine Plane, die eine Hausfront abdeckt. Er legt die Kamera auf den kleinen Tisch, fokussiert das Objektiv auf die weiße Fläche und stellt die Belichtung ein. Wenn immer er ein Motiv sieht, das ihn interessiert, ein vorbei hastender Mensch, eine Mutter mit drei Kindern im Schlepptau, ein Eseltreiber mit schwer beladenen Tieren, drückt er unauffällig ab. Dieses Land bietet so viele interessante Motive, so viele spannende Typen. Menschen, bei deren Anblick einem reihenweise Geschichten einfallen konnten. Es könnte eine Lust sein, hier zu fotografieren, aber statt dessen ist es mühsam und problematisch. Die Reaktionen der Menschen, wenn sie bemerkten was er tat, waren nie vorhersehbar. Aber er liebte die Herausforderungen.

Am Abend findet ein Open-air-Konzert statt, besser gesagt eine Folkloreshow, auf dem großen Platz vor der Kasbah. Tausende sind gekommen. Vor den Absperrgittern herrscht drangvolle Enge. An Massenpanik, Ohnmachtsanfälle, fehlende Notausgänge durfte man nicht denken. Die Leute drängeln, manche klettern über die Gitter, um näher an der Bühne zu sein, näher an ihren Idolen. Der Platz vor der Bühne wird rasch voll. Nach und nach füllt sich auch die große Tribüne im Hintergrund. Bald gibt es kaum noch ein Durchkommen. Die Stimmung heizt sich langsam auf. Die Leute warten auf den Beginn der Show und werden zunehmend ungeduldig. Sie rufen und schreien, klatschen und trampelen. Doch noch tut sich nichts, weil immer noch mehr Zuschauer kommen. Die leere Bühne wird von farbigen Scheinwerfern angestrahlt. Spotlights wandern über die wartende, unruhige Menge.

Er ist früh gekommen und steht inmitten der Leuten, nicht weit weg vom Ort des Geschehens. Wegen seiner Größe überragt er die meisten und hat freie Sicht in alle Richtungen. Wenn er sich umdreht, sieht er die Menschen auf der Tribüne, eine dumpfe, sich Masse, die sich in der Dunkelheit der bereits eingebrochenen Nacht sanft bewegt. Nur die Menschen in der obersten Reihe heben sich deutlich gegen den tiefblauen Samthimmel ab. Dann betritt ein Mann im weißen Anzug die Bühne, offensichtlich der Showmaster oder der Moderator. Er hält eine kurze Ansprache, vermutlich die Ankündigung dessen, was nun geboten wird. Die Menge unterbricht ihn mehrfach mit Gejohle und Geklatsche. Dann endlich beginnt die Show. Eine Folkloregruppe nach der anderen tritt auf, führt rhythmische Tänze vor, begleitet von dumpfen Trommeln, hellen Flöten und schrillen Gesängen. Er kann die Feinheiten der Darbietungen nicht unterscheiden, alles klingt fremd, alles was er sieht und hört kommt ihm sehr ähnlich vor. Er bleibt ziemlich unberührt von den Auftritten, anders als die Tausende um ihn herum, die laut und begeistert rufen und klatschen. Sie jubelen ihren Lieblingen zu und strafen diejenigen, die ihnen nicht gefallen, mit Gleichgültigkeit. Unmutspfiffen oder gar Buhrufe gibt es keine. Wenn ein besonderer Ohrwurm die Masse elektrisiert, klatschen die Leute noch intensiver, stampfen, tanzen, werfen die Arme hoch, singen mit, pfeifen vor Begeisterung oder stoßen selbst die schrillen Schreie aus, die sonst den Frauen auf der Bühne vorbehalten sind. Alle starren in eine Richtung, auf die hell erleuchtete Bühne, auf die Ansammlungen von Männern und Frauen in farbenprächtigen Gewändern, auf die Musikgruppen mit Trommeln, Pauken und Trompeten. Alle, Männer, Frauen, Kinder, Junge, Alte sind begeistert und gebannt von ihren Idolen. Sie haben nur noch diese vor Augen, nur noch ihre Musik in den Ohren. Er dagegen, nachdem seine erste Neugier gestillt ist und er das Gefühl hat, das sich alles wiederholt, sucht sich andere Objekte, die sein Interesse erregten. Er beobachtet die Menschen. Die einen stehen ganz versonnen und gebannt da, haben die Augen geschlossen, den Mund geöffnet, um leise mitzusingen. Die anderen gestikulieren wild und verzückt und starren auf die Bühne. Wieder andere tanzen auf der Stelle und singen die Schlager lauthals mit. Er dreht sich immer wieder weg von der Bühne, weg von dem Ort, auf den sich alle konzentrieren und sieht nach hinten, in die entgegengesetzte Richtung. Auf diese Weise kann er die Menschen von vorne betrachten, kann sich einzelne herauspicken und auf sie seine kleine Kamera richten, die er bei seinen abendlichen Spaziergängen und natürlich auch jetzt immer dabei hat. Aber gezielte Aufnahmen kann er er doch keine machen, dafür ist das Licht zu schlecht. Er hält die Kamera auf die Menge und drückt wahllos ab. Er muss das Licht hin nehmen, wie es ist: zuckende, bunte Spots, hastige Streiflichter, die über die jubelnde, wogende Menge huschen. Den Blitz seiner Kamera benutzt er nicht, er wäre zu schwach und hätte nur die Atmosphäre gestört und die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Denn hier, inmitten des Trubels, kann er ungestört fotografieren. Hier interessiert es niemanden, was er tut. Die Menschen sind in Feierlaune und milde gestimmt und außerdem sind sie voll von dem absorbiert, was auf der Bühne geschieht. Sie nehmen gar nicht wahr, was in der Nähe passiert. Viele haben auch Kameras dabei, heben sie über ihre Köpfe und versuchen ihre Idole auf den Film zu bannen. Leider kann er seinen Standort kaum wechseln, ohne dass er sich durch die Menge gepflügt oder geschlängelt hätte. Aber anderswo wäre das Bild auch nicht viel anders. Also bleib er, wo er ist, selbst fast unbeweglich, eingekeilt in die bewegte Menschenmasse.

Seinem suchenden Blick fällt nach einer Weile ein junges Mädchen auf, das er meist nur im Profil sieht, ein schwarzer Scherenschnitt vor dem braunroten Hintergrund der schwach beleuchteten Menschenmasse. Sie fällt ihm auf, weil sie einen Pferdeschwanz trägt, der ständig wippt und der sich von den Kopftüchern der anderen Frauen, der angesagten Einheitskleidung, wohltuend abhebt. Sie steht nicht allzu weit entfernt, aber meistens sieht er sie nur sehr undeutlich, ein Teil der dunklen Masse, aber immer dann, wenn der kreisende, wandernde Spotscheinwerfer sie voll trifft, ist sie klar und deutlich in seinem Fokus: ein hübsches Mädchen, eine junge, attraktive Frau. Irgend wann hat sie auch bemerkt, dass der große Fremde sie anstarrt und dass er seine Kamera auf sie richtet. Ihre Blicke kreuzen sich immer öfter und immer, wenn er in ihre Richtung sieht, schaut sie zu ihm. Vermutlich sind sie die beiden einzigen Menschen in der Menge, die nicht nur auf die Bühne starren, die etwas entdeckt haben, was noch spannender ist, als Folklore pur. Nach einiger Zeit stellt er fest, dass das Mädchen seinen Standort verlassen hat und sich langsam in seine Richtung drängt. Die Leute um die beiden herum toben, johlen, singen, pfeifen und tanzen, alles ist in Bewegung, alles in Aufruhr, alles in Extase. Der Höhepunkt des Konzerts steht kurz bevor.

Dann steht das Mädchen neben ihm, schaut ihn aber nicht an, scheint ihn völlig zu ignorieren, ihr Blick ist wie der, der unzähligen Anderen auf die Bühne gerichtet. Sie bleibt nicht lange neben ihm, sondern zwängt sich vor ihn. Sie ist natürlich viel kleiner als er und auch kleiner als die meisten anderen, die nun um sie herum sind. Sie hat Mühe, das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen, der neue Platz ist bestimmt nicht besser als der alte. Aber sie macht keine Anstalten, wieder einen besseren Platz zu finden. Warum nur ist sie her gekommen, in seine Nähe, fragt er sich und erhält auch prompt eine Antwort. Er merkt, wie sie sich an ihn drückt, wie ihr Rücken ihn berührt. In dem Gedränge ist an Ausweichen kaum zu denken, trotzdem will ihr ein wenig mehr Platz lassen, rückt ein wenig von ihr ab, doch sie rückt nach, sie schmiegt sich ganz offenkundig an ihn, ganz sanft, wie bei einem eleganten Walzer, aber irgendwie auch drängend und fordernd. Sie nähert sich ihm mit einer rätselhaften, doch wie ihm nun scheint, eindeutigen Absicht. Dann beginnt sie, wie viele andere auch, sich zu bewegen, mit der Hüfte zu wackeln, im Stehen zu tänzeln, sich rhythmisch hin und her zu wiegen. Es kann doch kein Zufall sein, dass diese Bewegungen so sind, dass sich ihr Hintern an seinen Oberschenkeln reibt und seinen Bauch streift. Hin und her, vor und zurück, sanft, aber stetig. Er ist total verdutzt, weiß nicht, wie ihm geschieht, hat keine Ahnung, wie er sich verhalten soll. Ihm ist schleierhaft, was sie will oder was sie von ihm erwartet. Er kann diese seltsame Situation einfach nicht einordnen, nicht in dieser Umgebung, nicht in diesem Land, nicht mit diesen Menschen, nicht mit dieser jungen Frau. Sie ist scheinbar ungerührt, gar nicht betroffen, von dem, was sie tut. Sie scheint sich, wie alle anderen voll auf die Bühne zu konzentrieren. Sie schaut starr in diese eine Richtung. Er kann ihr Gesicht nicht erkennen, kann nicht sehen, was es widerspiegelt, denn sie hält es die ganze Zeit von ihm abgewendet. Dafür hat sie aber ihren Körper, ihren Rücken, ihren Hintern ihm voll zu gewendet. Sie drückt sich ganz eng an ihn und, er hält den Atem an, ihre Hand tastet nach seiner Hand, ergreift sie, drückt sie erst kurz, wie zur Begrüßung, führt sie dann an ihren Körper, an ihre Taille, an ihren Bauch. Sie presst seine Hand geradezu mit ihrer Hand auf ihren Leib und hält sie dort fest, eine Minute, zwei Minuten. Dann hebt sie seine Hand, die vor Aufregung ganz feucht gewordene ist, hoch und führt sie an ihren kleinen, festen Busen und drückt und reibt und reibt und drückt. Nun ist er vollends verwirrt und schaut sich unbehaglich um. Doch niemand der Umstehenden merkt etwas. Alle toben, alle kreischen, alle sind nur noch auf das fixiert, was auf der Bühne ab geht. Die bekannteste Band hat ihren Auftritt, der absolute Höhepunkt der Show ist erreichte, ein orgiastischer Klimax. Die Akteure geben ihr Bestes, die tobende Menge ebenso. Es ist eine Massenorgie, eine Massenhypnose, eine Massenbewegung. Alles wiegt sich, tanzt, klatscht, alles ist nur noch ein Gewoge, eine Gesinge, eine Seligkeit., ein brandendes Meer mit zwei ruhenden Polen. Er und das Mädchen. Sie hat seine Hand losgelassen und der Druck ihres kleinen Körpers an seinen Leib hat sich ein wenig verringert. Sie steht nun ganz ruhig da, hat ihre Tanzbewegungen eingestellt. Sie konzentriert sich auf etwas anderes. Ihre Hand erfasst sein T-Shirt, zieht es aus der Hose, streichelt erst seinen Bauch, zwängt sich dann am Gürtel vorbei in die Unterhose und gleitet hinab, immer tiefer bis sie „his most private parts“ erreicht und sein schwellendes Fleisch für einen kurzen Moment, wirklich nur für ein paar Sekunden, umfasst und es sanft und fordernd und rhythmisch drückt. Schon hat sie die Hand wieder herausgezogen, schon löst sie sich von ihm, noch ehe er auf die Idee kommt, sie selbst noch einmal anzufassen und ohne die Hilfe ihrer Hand, Taille, Hintern oder gar den Busen noch einmal zu berühren. Alles ist vorbei und ungeschehen, nur sein beschleunigter Atem, sein Keuchen ist noch da. Das Ganze hat vielleicht zwei, drei Minuten gedauert, höchstens fünft, die intime Berührung nur wenige Sekunden. Niemand hat etwas bemerkt, alles was zwischen den beiden geschah, blieb der tobenden Menge verborgen. Ein letzter Händedruck, dann wendet sie ihm zum Abschied sogar das Gesicht kurz zu, ein schelmischer Blick, ein wissendes Lächeln, dann taucht sie ein in die Menge und bleibt verschwunden. Obwohl er intensiv nach ihr Ausschau hält, sieht er sie nicht wieder. Das Ende der Show ist gekommen, der Höhepunkt überschritten, die Leute sind nicht mehr zu halten. Sie stürmen auf die Bühne und fordern Zugaben, die in dem allgemeinen Chaos aber nicht mehr möglich sind. Sie skandieren Parolen, die er nicht versteht, genau so wenig wie das, was er gerade erlebt hat.

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