Im Stillstand

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Im Stillstand

Im Stillstand

Chloé d'Aubigné

Er atmet hörbar ein, presst die Lippen aufeinander. „Das ist doch nicht zu fassen.“ Dann ein Seitenblick, fast herausfordernd: „Gratuliere, Frau M., wieder ein unvergesslicher Arbeitstag mit Ihnen.“
Ich schnaube leise. „Geben Sie’s zu: Ohne mich wäre Ihnen furchtbar langweilig. Keiner mehr, dem Sie die Schuld für alles zuschieben können.“

Sein Blick streift mich – und zum ersten Mal heute liegt darin nicht nur blanker Ärger. Irgendwas anderes blitzt da auf. Unter anderen Umständen… vielleicht spannend. Aber er ist nun mal mein cholerischer Chef.

Wir schweigen wieder. Und langsam sickert durch das Notlicht nicht nur die Unruhe, sondern auch diese merkwürdige, schwer zu benennende Spannung. Wir sind beide gezwungen zu warten – und das miteinander.

Die Minuten dehnen sich, der Aufzug hält die Zeit fest. Es ist stickig. Mir fällt auf, wie wenig Platz hier wirklich ist. Herr Weber steht mit verschränkten Armen am Paneel, der Blick starr, die Haltung kontrolliert – und doch spüre ich, dass sich unter dieser Fassade etwas bewegt.

Ich lehne mich gegen die kalte Metallwand, tue so, als wäre ich gelassen. Aber Gedanken schleichen sich ein, die ich sonst schnell verjage.

Er blickt auf die Notruftaste, dann direkt zu mir. „Das letzte Mal, als der Aufzug steckengeblieben ist, hat es eine halbe Stunde gedauert. Wäre diesmal eine Katastrophe.“
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht zwingt uns das Universum zu einer Pause. Soll ja gesund sein.“

Er schnaubt. „Aha. Und was machen Sie sonst so, wenn alles stillsteht?“
„Gelegentlich zwischen Aktenschränken und Kaffeemaschine joggen.“

Stille. Dann zupft er an seiner Krawatte, als lockere er den festen Knoten. Irgendwie lässt es ihn… weniger unangreifbar wirken. Für einen winzigen Moment will ich nicht daran denken, wer er ist – nur daran, wie er jetzt vor mir steht.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Herr Weber weiterhin an seiner Krawatte zupft. Die perfekte Fassade bekommt feine Risse – winzig, für Außenstehende unsichtbar, für mich jedoch deutlich erkennbar. Ich kenne ihn lange genug, mich kann er nicht täuschen.

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