Im Stillstand

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Im Stillstand

Im Stillstand

Chloé d'Aubigné

Für einen Moment, einen viel zu langen Moment, empfinde ich diesen Riss als… interessant. Vielleicht sogar attraktiv, weil er ihn menschlicher macht. Natürlich verscheuche ich den Gedanken sofort.

Er lehnt sich gegen die Rückwand, atmet durch.
„Schon interessant“, sagt er. „Man verbringt fast mehr Zeit mit seinen Kollegen als mit irgendjemand sonst, und trotzdem weiß man im Zweifel fast nichts voneinander. Etwa wusste ich bislang nicht, dass Sie joggen gehen.“

Ich hebe eine Augenbraue. „Wollen Sie etwa Smalltalk machen, Herr Weber?“
Ein kurzes Auflachen, dann streift mich sein Blick – kurz genug, um beiläufig zu wirken, lang genug, um nachzuhallen. „Besser als sich gegenseitig anzukeifen, meinen Sie nicht?“

Ich lache und spüre, wie sich ein eigenartiges, warmes Prickeln unter die Belustigung mischt. „Manchmal finde ich unsere Wortduelle ja ganz reizvoll.“
Unsere Blicke verhaken sich. Ärger ist noch da, Frust auch – aber diesmal mischt sich etwas hinein, das ich ungern benennen möchte. Vielleicht war es schon immer da. Vielleicht will ich es nur nie zugeben.

Vielleicht zwingt uns das Universum tatsächlich zu einer Pause. Nicht nur zu einer Pause von der Arbeit – sondern auch vom Unterdrücken der Gedanken, denen wir uns sonst nie stellen wollen. Aber die in uns beiden schlummern.

Irgendwann verliert sogar das Starren an die Decke seinen Reiz. Herr Weber klopft nervös mit dem Fingernagel auf das silberne Geländer, ich spiele mit meinen Haaren.

Plötzlich bricht er das Schweigen. „Weißt du, ich frage mich manchmal, wie du das aushältst – mich, diese ganze Irrenanstalt. Oder rennst du innerlich schon längst schreiend davon?“

Wie selbstverständlich ist er zum Du gewechselt – und ich lasse es geschehen. Es passt zur Situation. Zur Enge – räumlich und… anders.
Ich zucke die Achseln, das Lächeln ist dieses Mal nicht gespielt. „Tage wie heute geben mir wenigstens das Gefühl, nicht eingeschlafen zu sein. Und du bist nicht schlimmer als der durchschnittliche Zürcher Stau.“
Er lacht – rau, echt, ein Klang, der ein Stück Anspannung zerreißt. „Das ist das Netteste – oder Unverschämteste –, was heute jemand zu mir gesagt hat.“

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