Mit Schaudern überlegte sich Jana kurz, auf wie vielen Postkarten, Postern, Fälschungen, Stickers, Bade- und Tischtüchern womöglich eines Tages ihr nackter Körper zu bewundern sein würde – der nackte Körper von Jana, der Hebamme. Aber sie war gegenüber Nacktheit sehr aufgeschlossen, schliesslich bildete diese einen wesentlichen Bestandteil ihres Berufs.
Sie war auf unkomplizierte Frauen angewiesen, die kein grosses Aufhebens machten, wenn es auf die Geburt zuging. Ausserdem hatte sie sich auch schon nackt ins Meer gestürzt und war glücklich gewesen, sich so mit der Natur verbinden und sich dem einen oder andern unsichtbaren Faun präsentieren zu können. Jana entspannte sich innerlich, sagte kein weiteres Wort zu Elias, dessen Ohren eine nie erreichte Röte gewonnen hatten, verzog sich hinter die spanische Wand und streifte sich ihr Kleid über den Kopf. Nun ist es so, dass eine Frau, die sich hinter einer spanischen Wand auszieht, Signale sendet. Sehr starke, fast schon intergalaktisch zu nennende Signale, die die Erwartung dessen, was den Mann vor der Leinwand zu sehen bekommen wird, bei weitem übertreffen. Und Elias empfing Signale, in Erwartung gebannt, und die Sekunden bewegten sich zähflüssig von dannen.
Dann, endlich, erschien die strahlende, splitternackte Jana. Elias konnte sich kaum sattsehen an ihren geschwungenen Schultern, dem offenen, hüftlangen Haar und den hübschen Hüftknochen, die er demnächst in Öl festhalten würde. „Leg Dich hin“, sagte er mit leiser Stimme, „leg Dich hin und richte Dich zwischen den Kissen ein“. Jana fühlte sich unwirklich und vermeinte, dass ihr der Boden unter den Füssen wegsackte. Erst noch war sie ahnungslos, nach 20stündigem Flug, in Samos angekommen. Sie war nicht zum ersten Mal auf der Insel, denn der Erholungswert war unerreicht. Aber jetzt... war die Zeit verflogen, und sie befand sich mit einem griechischen Künstler nackt in einem unterirdischen Tunnel.
Im Tunnel von Eupalinos
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Im Tunnel von Eupalinos
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Der Tunnel von ...
schreibt Huldreich