Die Art, wie Jana sich ihm an diesem windigen Spätnachmittag unfreiwillig darbot, war so etwas wie der kulminierende Punkt der gesamten Schöpfung. Ein Teil ihres Kleides lag eng an und verriet die Form ihrer Brüste, ein Teil war frech aufgebauscht, wie weiland das weisse Kleid von Marilyn Monroe über dem Belüftungsschacht. Die Nuance lag darin, dass Marilyn alles darangesetzt hatte, dass die Männer hinschauten. Jana aber befiel natürliche Verlegenheit, sie strich ihr Kleid glatt und drehte sich einmal um die eigene Achse. Da erblickte sie den hypnotisierten Elias. „Kalispera“, sagte sie keck, und Elias fühlte sich ertappt. Ob sie ihn wiedererkannt hatte, als Gast in der Taverne von vor ein paar Tagen? Offenbar war Jana allein unterwegs, eine neugierige, lebenslustige Frau, und sie stieg das Treppchen hinunter zu Elias. Dieser erstarrte. Die Frau sprach fliessend griechisch, und es war tatsächlich so, dass sie ihn wiedererkannt hatte. Nun hatte Elias ein Problem. Er konnte in seinem gegenwärtigen Zustand nicht aufstehen, allzu peinlich wäre das gewesen, im Anblick dieser Frau, die er mit jeder Faser seines Körpers begehrte.
Aber Jana setzte sich wortlos neben ihn und betrachtete kontemplativ das Meer. Zwei Seelenverwandte, weitab von der profanen, eintönigen Welt, gemeinsam dem schillernden Abendhorizont entgegen schwebend. Jana eröffnete Elias ihre Herkunft, erzählte ihm, wie sehr sie diese Erholung auf Samos brauche, um ihrem harten Job als Hebamme für kurze Zeit zu entrinnen, und wie schön sie es fände, mit einem Einheimischen ein paar Worte zu wechseln. „Gar nicht so einfach, wenn man verheiratet ist, weisst Du“, seufzte sie und rückte ein bisschen näher zu Elias. Dieser konnte sein Glück kaum fassen, wollte aber auch nichts überstrapazieren und öffnete sich Jana mit seiner ganzen verträumten Leidenschaft als Kunstmaler. Elias wollte die Gelegenheit beim Schopf packen. Er ahnte, dass die Touristin aus dem Norden nicht lange bei ihm auf dem Badetuch verweilen würde, denn irgendeinmal würde die eheliche Moral sie zur Besinnung bringen. Also musste Elias aufs Ganze gehen. Er zückte sein hart erworbenes Smartphone und zeigte Jana ein paar seiner aktuellen Bilder. Dieser blieb fast das Herz stehen. Derart einfühlsame expressionistische und zum Teil auch fotorealistische Kunst hatte sie noch nie gesehen. Elias malte Trauben. Tavernendächer. Hungernde Katzen, die sich in eine Ecke drängten. Die Hand eines Fischers mit nur noch zwei Fingern. Die andern hatte er verloren, als er ein übervolles Netz aus der Ägäis gezogen hatte, zu einer Zeit, als die Fischernetze noch übervoll gewesen waren. Mittlerweile war die Ägäis nahezu leergefischt, und es gab kaum noch einen Fischer, der sich und seine Familie nicht mit drei bis vier Nebenjobs über Wasser hielt.
Im Tunnel von Eupalinos
44 14-22 Minuten 1 Kommentar
Im Tunnel von Eupalinos
Zugriffe gesamt: 7107
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.
Der Tunnel von ...
schreibt Huldreich