...Nein: Es waren weder Seeräuber, noch feindliche Kriegsschiffe, die mein stolzes Schiff auf den Meeresboden schickten. Poseidon selbst zog es, ungeachtet der Wunderwaffe im Bug, in sein feuchtes Reich hinab. Zu verlockend war wohl die Ladung in seinem Bauch. Da nützten auch die großzügigen Opfer nicht, die ich ihm jeden Morgen auf See brachte. Er verschlang meinen stolzen Segler mit Mann und Maus.
Auch an meinen Beinen hatte er schon gezerrt. Doch ich klammerte mich tapfer an die Nymphe Kalypso. In Wahrheit hielt ich mich natürlich nur an einem Kunstwerk aus Edelholz fest, das eigentlich die Eingangshalle meiner Villa schmücken sollte.
Nun, die Nymphe „Versteckerin“ bewahrte meinen Leib. Meine Villa aber, interessierte sie nicht. Ich hatte mein Haus mit dem Gold beliehen, welches nun die Truhen des Meeresgottes füllte.
Ich war in gestandener Mann in der langsam welkenden Blüte seiner Jahre. Doch plötzlich war ich weitaus ärmer, als am Tage meiner Geburt. Denn damals hatte ich immerhin ein Dach über dem Kopf und festen Boden unter meiner Wiege. Ich wagte es nicht einmal zu fluchen, als ich an die "Vollbusige" geklammert durch das wild aufgepeitschte Meer trieb.
Einen vollen Tag und eine ganze Nacht währte dieser fürchterliche Sturm. Als er sich endlich gelegt hatte, war alle Kraft aus meinen Gliedern gewichen. Einzig die Krämpfe in meinen eisigen Armen verhinderten, dass ich los ließ.
...Als ich zwischen den hölzernen Brüsten der Nymphe hindurch über das inzwischen wieder spiegelglatte Meer blickte, griff ein neuer Schrecken nach meinem Herzen. Keine zwölf Schritte voraus, durchpflügte eine große, graue Rückenflosse die See.
Das konnte nur der fürchterliche Räuber der Meere sein. Ich schloss die Augen und erwartete mein Schicksal.
War es ein Fiebertraum, gnädige Ohnmacht, ...oder hatte er mich wirklich gepackt?
Wenn ja, dann war ich wohl schon völlig fühllos. Bis heute weiß ich nicht, was damals wirklich mit mir geschehen war. Plötzlich schien ich förmlich wie ein abgeschossener Pfeil durchs Wasser zu schießen. Mir war elend schwindelig. Sicher lag das bereits am rasenden Blutverlust, den mir die scharfen Reißzähne des Hais beigebracht hatten...
„Der Tot ist doch recht angenehm“, dachte ich zuletzt bei mir. Dann wurde mir schwarz vor Augen...
In Kalypsos feuchtem Reich
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In Kalypsos feuchtem Reich
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