Jenny und der Bohrer

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Jenny und der Bohrer

Jenny und der Bohrer

Anita Isiris

Jenny kauerte gemütlich auf ihrem neuen Sofa. Gerade eben erst hatte sie sich mit ihrem Freund in Prag eingemietet, wobei die Wohnung zu wünschen übrigliess. Im Eingangsbereich roch es schimmlig, das Treppenhaus war unbeleuchtet, und eine Schallisolation war so gut wie inexistent. Zudem war ein Teil der Abläufe defekt. Aber Jenny und Tom waren glücklich, frisch verliebt und vor allem kreativ. Tom war Aushilfshandwerker, Jenny arbeitete im Kassendienst einer Gemüsefiliale. Vermögend waren beide nicht, klar, aber sie waren froh, in Prag einen ersten gemeinsamen Unterschlupf gefunden zu haben. Den Wohnraum hatte Jenny schon mal gemütlich hergerichtet. Die Wände blassrosa bemalt, der Holzboden abgeschliffen, drei geschickt ausgewählte Stehlampen – und fertig war das Wohnparadies.

Jenny trug einen violetten Tanktop, der ihr sehr gut ins Gesicht stand, und einen neuen schwarzen knielangen Rock. Im Schneidersitz blätterte sie in einer Modezeitschrift, und alles war gut. Da hörte sie die Eingangstür quietschen, und ihr Herz tat einen Luftsprung. Tom kam früher nach Hause als erwartet. Er war ungewöhnlich blass und setzte sich seufzend neben Jenny aufs Sofa. Wortlos packte er seinen Bohrer aus, mit dem er jeweils für seine Aufträge zugange war. Ein Multifunktionsgerät, mit dem man auch Flächen schleifen konnte – Toms ein und alles und im Grunde die Basis für die Existenz des tschechischen Liebespaars. «Riech mal», sagte er schlecht gelaunt. Jenny rümpfte die Nase, denn es roch nach «verbrannt». «Tote Hose, der machts nicht mehr», sagte Tom wortkarg und blickte ins Leere. «Ach Du…», sagte Jenny leise und legte ihm zärtlich den Arm um die Schulter. Sie versuchte ihn zu trösten, aber Tom war verzweifelt. Auch Jenny dämmerte der Ernst der Lage. Ohne diesem Bohrer würde Tom sich nicht mehr an Wohnungsrenovationen und Möbelauffrischungen beteiligen können, würde sämtliche Kunden verlieren, und schon bald würden sie beide auf der Strasse stehen. Jennys Einkommen reichte gerade mal für Lebensmittel, niemals aber für eine Prager Bleibe, auf die sie angewiesen waren, weil sie über kein Auto verfügten und Jennys Gemüsegeschäft sich gleich um die Ecke befand.

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