Er geht wieder in den Faisan d’or. Auch hier ein leicht zweifelnder Blick des Kellners, nicht weil er ihn wieder erkannt hätte, sondern weil er Zweifel hegte, dass dieser Gast überhaupt in der Lage sein würde, seine Rechnung zu bezahlen. Doch der Mann zerstreute diese Zweifel, weil er nur eine Suppe, einen Salat und ein Glas Wasser bestellt. Der schäbige Gast freut sich. Das war der zweite erfolgreiche Test. Als er das Lokal verlässt, schaut er auf die Parkbank auf der anderen Straßenseite. Sie ist leer, es wartet niemand. Er geht im Park spazieren. Er weiß, wo er hinwill, aber es ist noch zu früh. Dann geht er zum Hotel. Die Rezeption ist leer, Madame ist schon gegangen. Er zerwühlt das Bett, schafft im Bad etwas dezente Unordnung, indem er nasse Handtücher auf den Boden wirf. Dann nimmt er seine Reisetasche, deponiert den Schlüssel, wie mit Madame besprochen an der Rezeption und geht zu seinem Golf.
Er fährt am Nagelstudio vorbei. Es brennt noch Licht. Er stellt den Wagen ein paar Straßen weiter ab und geht, mit seiner Reisetasche, zurück zum Nagelstudio. In dem gegenüberliegenden Eingang eines Geschäfts findet er einen Platz, von dem aus er das Studio gut beobachten kann, ohne selbst gesehen zu werden. Er holt ein kleines Fernglas aus der Jackentasche. Durch die große Fensterscheibe, das Wort „Boulanger“ steht immer noch in verblassten Lettern über dem Laden, sieht er, was sich im Inneren abspielt. Janine hat noch eine Kundin. Er weiß aus seinem Dossier, dass sie bis spät in die Abendstunden geöffnet hat, weil viele ihrer Kundinnen berufstätig sind und abends kommen. Er sieht zu, wie die beiden Frauen miteinander reden, lachen, wie Janine sich über die Finger beugt, herumfeilt, etwas auftupft, mit einem Föhn trocknet. Die Kundin sieht sich ihr Werk an. Sie scheint zufrieden zu sein, nickt, steht auf, holt ihr Portemonnaie aus der Handtasche, bezahlt. Ein wechselseitiges Küsschen auf die Wangen und dann verlässt sie den Laden.
Er wartet, bis sie hinter der nächsten Straßenecke verschwunden ist, dann löst er sich aus seinem Versteck, überquert die Straße und betritt das Nagelstudio. Die Türglocke bimmelte und Janine schaute erstaunt hoch. Männliche Kunden kamen nie, allenfalls holte ein Mann seine Frau oder Freundin ab oder half beim Aussuchen der Muster für die Nägel. Der Mann, der vor ihr steht, passt absolut nicht in ihre Welt, es ist kein Mann für ein Nagelstudio. Sie fragt, was sie für ihn tun könne. Er antwortet zunächst nicht, sondern betrachtet interessiert den Raum und ihre Werkzeuge, die Tuben und Tiegel, die Lacke und Farben, die Sprays und Schablonen.
„Bitte einmal Maniküre“ sagt er endlich und setzt sich. Seine Tasche stellt er auf den Boden. Dann legt er langsam seine linke Hand auf die dunkle Ablage. Die Hand ist sehr gepflegt. Sie passt eigentlich gar nicht in das Erscheinungsbild dieses Mannes, der von seinem Aussehen her, ein Penner sein könnte. Aber mit der Hand stimmt etwas nicht und erst in diesem Moment, beim Anblick des kleinen Fingers mit dem gekappten Ende, geht Janine ein Licht auf und sie erkennt den späten Kunden. Kalte Angst greift nach ihr, sie schreit auf. Ihr Blick, gerade noch zwischen geschäftsmäßigem Interesse und verhaltener Neugier wechselnd, wird schlagartig düster, ja panisch. „Was, was wollen Sie hier? Machen Sie, dass Sie rauskommen. Ich habe schon geschlossen.“ „Aber Janine, wir sind doch per Du. Hast du das schon vergessen? Wenn du geschlossen hast, machst du eben wieder auf.“ Er wartet ein Weilchen, weidet sich an ihrem angstvollen Blick, ihrer abwehrenden Haltung. Sie ist immer noch verdammt schön, denkt er, selbst jetzt, da alles Sanfte und Verführerische aus ihrem Gesicht verschwunden ist. Eine schöne Frau, sogar in dieser weißen, völlig unattraktiven Kittelschürze und mit dem Mundschutz aus Papier um den Hals. Ihre langen, schwarzen Haare sind mit diversen Nadeln hochgesteckt. Die Pupillen in ihren schönen Augen sind wieder groß und weit, doch diesmal aus lauter Angst.
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schreibt Huldreich