Kostümchen

Tinas Geschichte

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Kostümchen

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Stayhungry

Nur damals war eben ein zurückhaltender Dress-Code angesagt. Ich hatte mich dem gefügt, denn ich hatte keine Lust, als junge Frau Ziel plumper Anmache zu werden, hatte ich doch von einem Tag auf den anderen eine Abteilung zu leiten mit Leuten, von denen einige meine Eltern hätten sein können. Da war es schon von Vorteil, vor allem als Vorgesetzte wahrgenommen zu werden. Im Übrigen fand ich mich auch ohne Aufdonnern durchaus attraktiv mit meinen langen dunklen Haaren und den großen braunen Augen.

„Kostümchen“ hieß also ich als neue Chefin. Ich wusste, ich würde es schwer haben in diesem riesigen Laden, der ein etwas spezielles Rechtsgebiet bearbeitete. Ich musste also kompetent als Autorität auftreten, die nüchtern, pragmatisch und mitleidlos entschied und von Gefühlsduseleien generell nicht so viel hielt. In der ersten Zeit opferte ich alle Abende und Wochenenden meiner Einarbeitung, doch anders als manche junge Kollegen hat mich das nicht besonders belastet. Es gehörte einfach zum Anfang meines Berufslebens dazu. Meine Auffassungsgabe und mein Gedächtnis waren seit jeher brillant, und ich merkte, meine Schlagfertigkeit wurde schnell gefürchtet. Ich genoss es, den Smalltalk zwischendurch souverän zu absolvieren, war aber immun gegenüber Anbiederungen. Die brauchte ich auch nicht, denn ich würde hier sicher nicht alt werden. Zunächst wehte mit mir jedenfalls ein frischer Wind, und ich merkte schnell, wer ihn begrüßte und wen es im gewohnten Trott störte. So war ich nicht unbedingt Ziel und Inhalt männlicher Phantasien, mein Spitzname kein neckisches Attribut, sondern eher eine sachliche Bezeichnung meiner Funktion. Der eine oder andere Wagemutige nannte mich auch „Tinchen“, doch nur, wenn sichergestellt war, dass ich es definitiv nicht direkt zu hören bekam, denn eigentlich standen sie alle stramm vor mir.

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