Nicht, daß unser schönes Kind dissozial veranlagt wäre, soziale Dichte ist eine feine Angelegenheit, allerdings nur mit Mitmenschen, die auch eine gewisse gesellschaftliche Kompetenz aufweisen können. Uta ist aber leider mit einem Vollpfostenkolleg unterwegs und freut sich daher über ein wenig Zeit mit sich allein. Ein gut durchgeführtes Lauftraining fördert nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Zum Nachdenken gibt’s fast nichts Besseres; von einer ausführlichen morgendlichen Toilettensitzung mal abgesehen.
Der nächste Tag bringt erst einmal nichts Neues: Putten soweit das Auge reicht. Während Uta gerade darüber sinniert, ob die Herstellung dieser Figuren nicht vielleicht eher eine Strafe für in Ungnade gefallene Steinmetze und Stuckateure bedeutete, wird an diesem vierten Tag der Reise und in dieser gefühlt 276. barock überfrachteten Kirche die erste sinnvolle Frage gestellt: Woher denn der Hang zu der barocken Engelsfülle stamme? Und Dr. Mark Wagner tut das, was alle Dozenten gern tun: Er reicht die Frage an seine anderen Studenten weiter. Und die Studenten tun auch das, was von ihnen erwartet wird: betroffene, ahnungslose Gesichter machen. Und wer hat überhaupt nicht zugehört? Uta. Die ist in ihrer eigenen Welt, sitzt in erster Reihe und stellt sich ihren Doc mal wieder nackt vor. Dumm nur, daß sie ihn dabei anschaut.
„UTA!“ Der Traum zischt vorüber. Das Mädel wird rot. Der Doc steht vor ihr und schaut sie an. „Können Sie einen Beitrag zur Frage leisten?“ Uta macht große Augen und zuckt mit den Schultern. „Ich muß die Frage wohl akustisch nicht verstanden haben.“ Der Doc lacht. „Akustisch. Hmmm. Ihre Kommilitonin möchte wissen, wieso die barocken Kirchenbauer eine gewisse Engelaffinität an den Tag legten.“ Bekloppte Frage. Erneutes Schulterzucken. „Vielleicht sollten Märtyrerskelette nicht an der Decke hängen?“ Viele Paar großer Augen schauen sie an. „War ein Scherz, Leute. Der katholische Barock läuft parallel mit dem erstarkenden Protestantismus und damit mit der Individualisierung des Einzelnen einher. Die Engelmanie ist die Antwort auf das Problem der großen Kindersterblichkeit, schätze ich.“
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