Der Kuss

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Der Kuss

Der Kuss

Yupag Chinasky

Es war am späten Abend eines ganz gewöhnlichen Tages, eines Freitags, als ihr Mund den seinen fand und ein Kuss begann, der an Intensität und Dauer ohnegleichen war. Es war reiner Zufall. Er hatte sich im Theater ein Stück angeschaut, das ihm überhaupt nicht zugesagt hatte. Leicht irritiert und einigermaßen frustriert wollte er rasch zurück nach Hause, es sich dort noch ein bisschen gemütlich machen, ein Glas Wein trinken und Musik hören. Im Foyer traf er aber einen Bekannten. Sie redeten ein Weilchen, ziemlich belangloses Zeug, aber da sie sich länger nicht gesehen hatten und er ihn eigentlich ganz nett fand, machte er den Vorschlag, noch irgendwohin auf ein Bier zu gehen. Doch der Bekannte lehnte ab, er habe leider keine Zeit, habe noch etwas vor, man erwarte ihn, es täte ihm leid, aber das nächste Mal, ganz bestimmt das nächste Mal, da gehen wir zusammen wohin. Der Bekannte verschwand, ließ ihn in de Halle stehen und er ging, noch ein wenig mehr frustriert, zu seinem Auto in der Parketage. Er war nun unter den Letzten und er sah, wie sich die Autos stauten und er wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis er das Parkhaus verlassen konnte. In einer halben Stunde wäre hier gähnende Leere, da wäre niemand mehr da, dann hätte er freie Fahrt. Statt im Schritttempo zu zockeln und stinkende Abgase einzuatmen, wäre es besser noch ein paar Schritte zu gehen, einen kleinen Spaziergang machen, etwas frische Luft, das könnte nicht schaden.

Es war noch nicht einmal zehn Uhr und der Abend war für Mitte Oktober ziemlich lau. Trotzdem war die Innenstadt weitgehend verlassen, wie immer. Auch an lauen Sommerabenden war die langweilige Stadt verlassen. Durch die Straßen bummeln machte keinen Spaß, um diese Zeit schon gar nicht und window shopping bei den Ein-Euro-Läden und den Bäckereifilialen war auch nicht aufregend. Irgendwo könnte er ja noch ein Bier trinken, auch wenn er allein war. Bier schmeckt auch dann, wenn man allein ist, vor allem Guiness. Er mochte Guiness, nicht immer, aber wenn man Durst hat und es frisch gezapft und kühl ist, gibt es kaum etwas Besseres, fand er und auf einmal hatte große Lust auf ein Guiness. Er kannte ein Irish Pub, eine der wenigen Kneipen, die es im Zentrum gibt und so machte er sich auf den kurzen Weg.

Das Pub ist knallvoll. Alle, die nicht auf der Straße sind, sind hier: Menschen, Leben, junge Menschen, pralles Leben. So wie er es von der Tür aus sieht, ist kein Tisch frei, an den er sich hätte verziehen können, nicht mal ein Stuhl an einem Tisch. Er steuert den Tresen an, geht dorthin, wo die Spüle ist, dort wo eigentlich keiner stehen bleibt, wo sich auch keiner hinsetzt. Aber hier ist noch ein freier Platz, zumindest ein Stehplatz. Für ein Bier wird es reichen. Er bestellt eine Pint Guiness und zieht die Jacke aus. Es ist warm, tropisch feuchtwarm und die Luft ist schlecht, obwohl die Raucher auf die Straße gehen müssen. Aber das Bier ist so gut, wie er es sich vorgestellt hatte. Ein tiefer Schluck, dann ist sein dringendstes Bedürfnis gestillt und er sieht sich in Ruhe um und erst jetzt beäugt er auch die junge Frau, die auf dem Hocker neben ihm sitzt, auch sie ist an dem wenig attraktiven Teil des Tresens gestrandet. Die Frau trägt ein rotes Kleid mit weißen Punkten, hat braune, halblange Haare, ist etwas kompakt, aber nicht hässlich, ganz bestimmt nicht. Am auffälligsten ist ihr Blick, der ziemlich verklärt in eine diffuse Ferne gerichtet ist. Es ist ein heiterer, gelassener Blick, ein verklärter Blick, ein besserer Begriff fällt ihm nicht ein. Sie scheint zu warten, denn der Hocker neben ihr ist mit einer blauen Stofftasche belegt, einer einfachen blau-roten Tasche mit ein paar gestickten Worten, die er jedoch nicht entziffern kann. Auf wen wartet Sie? Auf ihren Freund, der an einem der Automaten im hinteren Teil der Kneipe daddelt oder Darts spielt? Auf eine Freundin, die sich gerade auf dem Klo hübsch macht? Er nimmt einen weiteren tiefen Schluck, das Guiness ist am besten, wenn es kühl ist. Er trinkt, wischt sich den Schaum vom Mund, schaut sich im dem Lokal um und wendet sich dann wieder der jungen Frau zu, die immer noch wartet, immer noch ihr verklärtes Lächeln lächelt und dabei leicht abwesend wirkt. Aber so abwesend ist sie dann doch nicht, denn sie nimmt ihn wahr, deutet auf den Hocker neben sich und räumt die bunte Stofftasche weg. „Wollen Sie sich setzen? Setz dich doch.“ Er setzt sich und auf einmal ist er ganz dich neben ihr, ganz nahe an ihrer Seite. Auf einmal ist er nicht mehr allein, muss nicht mehr allein sein Bier trinken, kann vielleicht etwas plaudern, vielleicht sogar flirten, sie scheint ja Unterhaltung zu suchen, sonst hätte sie ihm den Platz nicht angeboten und es ist auch bisher noch niemand gekommen, um sich neben sie zu setzen. Auf einmal ist der leichte Frust wie weggeweht und stattdessen kommt Neugierde auf, aber zugleich auch ein wenig Irritation. Er hat wenig Erfahrung mit einzelnen Frauen in Lokalen, mit Frauen, die an Tresen darauf warten, dass man mit ihnen anbandelt. Er geht selten abends aus und wenn, dann mit Bekannten oder mit seiner Frau, fast nie allein und wenn allein, dann sucht er nicht unbedingt Gespräche oder Kontakte, dann sucht er sich einen einzelnen Tisch und bleibt meist allein. Er taugt nicht zum Small-talk und anbandeln liegt ihm auch nicht. Aber nun hat sich etwas ergeben, ein Schritt ist getan, von ihr getan und nun muss er wohl auch selbst etwas tun. Der Mann muss doch die Initiative ergreifen, der Mann ist doch der, der üblicherweise etwas will. Er ist der Mann, er muss jetzt reden, etwas Allgemeines, Unverfängliches sagen. Aber wie fängt man ein Gespräch mit einer Frau an, die offensichtlich auch allein ist und nicht allein bleiben will, sonst hätte sie ihm ja nicht spontan den Hocker angeboten. Was sie da trinke? Trinken und rauchen sind gute Einstiegsthemen. Sie sagt etwas, etwas sehr Nuscheliges, Unpräzises, nur ein paar Worte. Er versteht Bahnhof, glaubt aber Cola und Wodka herauszuhören. In ihrem Glas ist eine braune Brühe, es könnte Wodka-Cola sein oder sagt man Cola-Wodka, er weiß es nicht, er findet solche Gesöffe ohnehin ekelig und würde sich nie so was bestellen. Er trinkt Bier oder Wein, keine Cocktails, keine Schnäpse keine obskuren Mischungen.

Die Frau auf dem Hocker hat sich ganz ihrem Glas zugewendet. Sie hält es mit einer Hand fest, leicht gekippt und nippt ab und zu. Sie trinkt kleine Schlückchen mit zwei Strohhalmen, einem gelben und einem schwarzen. Mit diesen Halmen spielt sie ständig herum, taucht sie ein, zieht sie heraus, rührt und rührt und rührt. Er will witzig sein. Ob sie getrennt trinken könne, einen Strohhalm für Cola, den anderen für Wodka, den schwarzen für Cola, schwarze Halme würden schwarze Getränke anziehen und so könnte man sie gut trennen. Der Witz kommt nicht an. Die junge Frau lacht nicht, sagt nichts, hat nur weiter ihr verklärtes Lächeln, das sie wohl auch hätte, wenn er nicht neben ihr sitzen würde. Ab und zu suchen ihre Augen zwar die seinen, aber nur selten und dann wirkt ihr Blick irgendwie schelmisch. Aber meistens schaut sie nur auf ihr Glas oder hält die Augen geschlossen. Er wird einen neuen Anlauf machen müssen. Er überlegt, ob es sich überhaupt lohnt, ein Gespräch zu suchen. Wofür lohnt, denkt er, aber dann kommt er zu dem Schluss, wenn er schon hier sitzt, könnte er ja auch ein wenig reden oder flirten, wenn das gewünscht wäre, was er immer noch nicht weiß. Wo sie denn her sei? Hier aus der Stadt? Sie atmet tief auf und wieder sind ihre Worte ziemlich unverständlich, obwohl sie keine Ausländerin ist, das hat er an den paar Worten, die sie bisher von sich gab, sofort erkannt. Sie hat ihn sicher auch verstanden, aber ihre Antwort ist wieder genauso diffus, weder ja noch nein, nur ein tiefes Luftholen, nur ein halber Satz, der irgendwie im Raum stehen bleibt.

Das mit der Herkunft ist auch schon fast das Letzte, was die beiden an diesem Abend in dem tropischen Klima des Irish Pub miteinander reden, denn auf einmal, ganz unvermittelt, wortlos, lehnt sie sich an ihn und legt ihren warmen Kopf auf seine linke Schulter. Dabei lächelt sie weiter ihr verklärtes Lächeln und hält weiter die Augen geschlossen. Er ist aufs Neue irritiert und bleibt stocksteif auf seinem Hocker sitzen, dicht neben ihrem Körper, ganz dicht neben ihrem Kopf. Er atmet die Luft über ihren Haaren ein. Sie riechen gut. Die junge Frau scheint kein Parfüm oder Deodorant zu benutzen, sie hat es anscheinend nicht nötig. Während er steif da sitzt, sich mit der rechten Hand nun auch an seinem Bierglas festhält und die linke einfach hängen lässt, hat sie sich zum Ausruhen eingerichtet. Ihr Kopf ruht ganz selbstverständlich auf seiner Schulter, der rechte Unterarm liegt auf der Theke, die Hand ist geöffnet, als warte sie darauf, dass man sie ergreife. Ihre linke Hand hält das Colaglas immer noch in Schieflage und die Finger rühren mit den Strohhalmen in der braunen Brühe, werden aber zusehends langsamer und dann herrscht Ruhe. Er versucht, sich einen Reim auf die neue Situation zu machen. Was will sie? Ist sie so müde, dass sie Anlehnung braucht? Schläft sie schon? Oder ist sie so voll, dass sie nicht anders kann, dass sie sich nicht mehr gerade halten kann? Sie macht aber keinen betrunkenen Eindruck, riecht auch nicht nach Alkohol. Während er keine Ahnung hat, was er machen soll, seine Irritation aber langsam abnimmt, beobachtet er die Bedienung, die, ganz in Schwarz gekleidet, hinter der Theke das tut, was man hinter einer Theke machen muss: immer wieder die Spülmaschine ein- und ausräumte, die Kasse bedient, Getränke eingießen, einen gefrorenen Flammkuchen aus dem Kühlschrank nehmen, lauter solche banalen Sachen. Sie prüft jedes Glas, bevor sie es in das Gestell für die Spülmaschine einräumt. Ein Glas ist angeschlagen, sie entsorgt es. Er hörte, wie es unter der Theke zerschlagen wird und scheppernd in einem Eimer landet. Die Frau an seiner Seite beobachtet nichts und beachtet nichts. Sie scheint zu schlafen, zumindest atmet sie ganz regelmäßig, wie ein schlafendes Kind. Ob sie ihre Augen immer noch geschlossen hat, kann er nicht sehen, denn inzwischen hat sie ihr Gesicht in der Beugung seines Halses regelrecht vergraben, aber er vermutet es, denn in dieser Position könnte sie ohnehin nichts sehen, nicht einmal seinen Hemdkragen. Um zu prüfen, ob sie schläft, lässt er sein Bierglas los und berührt mit seiner Hand die ihre, die immer noch offen auf der Theke liegt, hebt ihre Finger leicht an und streichelt dann mit seinen Fingern über ihren nackten Unterarm. Keine Reaktion.
Das Guiness ist leer, er bestellt einen Grapefruitsaft. Kein zweites Bier. Ein weiteres Prinzip von ihm. Wenn er mit dem Auto unterwegs ist, trinkt er nur ein Bier oder ein Glas Wein, mehr nicht. Ob pur oder als Schorle, will die Bedienung wissen. Ja, bitte, Schorle. Der Saft schmeckt gut, weil er kalt ist. Im Glas sind viele Eiswürfel. Er macht einen neuen Versuch, mit seiner Nachbarin ins Gespräch zu kommen. Er hält ihr das Glas hin. Ob sie einen Schluck wolle? Ihre Cola-Wodka, oder heißt es Wodka-Cola sei doch bestimmt schon pisswarm. Das hier, das sei schön kühl. Sie hebt ihren Kopf ein wenig, kühle Luft dringt an seinen Hals, der durch ihre Wärme angefangen hat, zu schwitzen. Er kann nun wieder ihre Augen sehen. Sie hat sie tatsächlich geöffnet und sie lächelt auch wieder, sagt aber nichts, weder ja noch nein, weder piep noch papp. Er schiebt ihr den Strohhalm zwischen die Lippen. Sie saugt, aber nur ganz wenig, dann stößt sie ihn mit der Zunge aus dem Mund und murmelt etwas Unverständliches. Die Sache mit dem Strohhalm hat aber bewirkt, dass ihr Kopf näher an seinen herangerückt ist, weil sie ihn zum Trinken angehoben hat. Beide Köpfe sind nun auf gleicher Höhe, dich nebeneinander, nicht mehr Kopf auf Schulter, nein Kopf an Kopf und so dicht wie ihre Oberkörper, die schon die ganz Zeit dicht aneinander geschmiegt waren. Dann ist ihr Mund an seinem und dann fängt sie an ihn zu küssen und dann beginnt der längste und intensivste Kuss seines Lebens.

Erst berühren sich ihre Lippen nur ganz leicht. Ein Küsschen unter Freunden. Ein Kinderkuss. Doch der Unschuldskuss wandelt sich sofort, fast von Anfang an, in einen Liebeskuss, weil ihre Zunge, ohne zu zögern, ohne zu tändeln, ohne abwartendes Vorspiel direkt in seinen Mund eindringt. Ehe er so richtig mitbekommt, dass die Frau an seiner Seite sich nicht ausruhen will, ehe er kapiert, was sich da direkt unter seiner Nase tut, bevor ihm klar wird, dass sich die Lage völlig geändert hat, wandert ihre Zunge in seinen Mund und fängt an, darin herumzuwühlen. Beide Zungen treffen sich, spielen miteinander. Er umkreist mit seiner Zungenspitze die ihre, spielt ganz leicht, ganz locker, versucht eine Art schnelles züngeln, aber sie dringt mit ihrer an seiner vorbei, dringt tief in seinen Mund hinein, in den Rachen hinein und bewegt sich dort andauernd, ausdauernd, intensiv. Er gibt zurück, was er erhält und so wühlen und drängen sich nun beide Zungen, dringen tief ein, ziehen sich zurück, immer tiefer, immer mehr, immer wilder. Ihre linke Hand hat das Colaglas losgelassen, ihre rechte hat sich vom Tresen gelöst, beide umschlingen nun seinen Nacken, wühlen in seinen Haaren, drücken seinen Hals, seinen Kopf an ihren. Sie drückt ihren Mund fast verzweifelt auf seinen. Sie giert nach seinen Küssen wie eine Ertrinkende, die nach Wasser lechzt. Kaum zieht er sich etwas zurück, kaum schließt er spielerisch die Lippen, stößt sie nach, dringt wieder ein. Ihre Münder drücken sich aufeinander, werden abwechselnd größer und kleiner. Sie saugen gegenseitig an ihren Zungen. Mal zieht er die ihre in die Tiefe seines Rachens, dann lässt er von ihr ab und sie macht genau dasselbe Spiel mit seiner. Sie saugen und stoßen wieder ab. Nach dieser tiefen Phase, die ausgiebig und wechselseitig zelebriert wurde, wandern ihre Zungen über die Lippen, über die Zähne, über die Gaumen und enden immer wieder aufs Neue tief im Schlund, so tief, wie es nur eben geht. Zunge, Lippen, Zähne, wenn er sich ein wenig lösen will, stößt sie nach, drückt ihn an sich. Er will einen Schluck trinken, nur mit Mühe kann er für einen kurzen Moment seinen Mund befreien. Sie trinkt nichts, wartet mit geschlossenen Augen, darauf sofort weiter zu küssen. Sie macht gar nichts mehr, außer Küssen und sich an ihm festklammern und dabei stöhnt sie ganz leise, nur für ihn hörbar. Kaum hört er auf, an seinem Strohalm zu saugen, hat sie das verlorene Terrain wieder zurück erobert und saugt an seinem Mund. Sie drückt sich noch dichter an ihn, presst sofort wieder Mund auf Mund, fängt sofort wieder an, ihre Zunge kreisen zu lassen, einzudringen, auszukosten, nachzuschieben, anzusaugen, links herum, rechts herum, sie tummelt sich vorne, hinten. Ihr Mund schmeckt gut, kein abgestandener Atem, kein Alkohol. Sie wirkt frisch und einladend, aber ihre Augen hält sie die ganze Zeit geschlossen, ihr verklärtes Lächeln bleibt, soweit er das beurteilen kann, denn meistens sind auch seine Augen zu und da ihre Gesichter so nahe beieinander sind, sieht er ihres kaum. Und sie sagt nach wie vor nichts, kein Wort, kein einziges Wort.

Seine recht Hand hat schon längst das Saftglas losgelassen und ist auf Wanderschaft gegangen. Erst wandert sie auf dem nackten Unterarm umher, streichelt die helle Haut, dringt bis zum kurzen Ärmel des roten Kleides. Die Finger dringen in die Öffnungen ein, dann wandert die Hand schräg vorne hinab, in Richtung ihres Busens. Er spürt ihren festen BH, er fühlt ihre harte Brustwarze durch den leichten Stoff. Er drückt und streichelt, sie stöhnt und das Gewühle in seinem Mund wird noch einen Tick heftiger. Dann wird auch seine linke Hand aktiv. Sie fährt auf ihrem Rücken umher, findet die Träger und den Verschluss des BHs, wandert tiefer, bis zu den beiden recht voluminösen Hinterbacken und endet auf dem Hocker. Dann findet auch diese Hand ihre andere Brust und nun werden beide gedrückt und leicht geknetet. Sie reagiert erneut. Küsst noch heftiger, lutscht noch wilder, saugt noch intensiver. Er hat ein wenig Angst, dass Knutschflecken entstehen, die man sehen könnte, am nächsten Tag, daheim. Er reibt und drückt, sie stöhnt und saugt und ihre Zungen vollführen immer aufs Neue ihren endlosen Tanz in den aufeinander gepressten Mündern. Sie hält ihn, je länger nun der Kuss schon andauert, um so fester am Kopf und will ihn absolut nicht loslassen, keinen Moment sollen sich die Münder trennen, keine Sekunde die Zungen mit ihrem Spiel aufhören.

Er überlegt, was er machen soll. Er müsste nach Hause. Er kommt nie besonders spät nach Hause. Seine Frau wartet zwar nicht, bekommt aber meistens mit, wann er kommt. Mit etwas Mühe schaut er auf seine Uhr. Kurz vor zwölf. Was für ein Kuss, was für eine Ewigkeit. Er löst sich vorsichtig und fragt sie, ob er sie irgendwo hinbringen könne. Sie reagiert nicht. Doch sie reagiert. Sie rutscht, nachdem das innige Anschmiegen unterbrochen ist, auf einmal von ihrem Hocker und sinkt, fast wie in Zeitlupe, auf den Boden. Sie ist nicht ganz leicht. Er kann sie nicht festhalten. Das Gleiten kam zu überraschend. Er versucht sie wieder hochzuhieven und hinzusetzen. Sie ist schwer. Zwei Männer helfen ihm und dann sitzt sie wieder auf ihrem Hocker. Die Bedienung fragt, was los sei, ob sie ein Taxi rufen solle. Auch er fragt noch einmal, ob er etwas für sie machen könne, sie irgendwo hin bringen könne. Halb aus Führsorge, halb mit dem Hintergedanken, nach mehr, nach neuen Arealen, in denen dieser Kuss für die Ewigkeit noch tummeln könnte. Sie antwortet nicht, auch nicht auf die Frage, ob sie sich wehgetan habe. Auch nicht auf die Frage, ob sie noch etwas zu trinken wolle. Doch, sie reagiert, indem sie sofort wieder seinen Mund sucht, wieder weiter küsst, weiter saugt, weiter mit ihrer Zunge spielt, versucht, noch mehr einzusaugen, noch mehr von ihm in sich hinein zu ziehen. Er küsst auch wieder, wenn auch unkonzentrierter als am Anfang und beobachtet noch eine Weile, wie die jungen Leute hinter der Theke die Spülmaschine füllen und leeren und sich um die beiden Irren vor ihren Augen nicht weiter kümmern. Viel mehr kann er aus seiner Position nicht sehen, sie hält sich an ihm fest, hält ihn fest und auch er hält sie fest, damit sie nicht noch einmal wegrutscht, abrutscht, hinab fällt. Aber der Höhepunkt ist überschritten. Er ist ungeduldig, die Zeit drängt und er beschließt, nun doch zu gehen. Ruft nach der Rechnung, bezahlt und will auch ihre Wodka-Cola bezahlen, doch die sei, sagt die Bedienung, schon bezahlt. Er löst sich nun endgültig von der jungen Frau, sagt, er müsse nun gehen. Keine Reaktion, sie hängt schlaff in seinen Armen, die Augen sind immer noch zu. Da sie die Augen die meiste Zeit geschlossen hatte, weiß er nicht einmal, welche Farbe ihre Augen haben, er glaubt, grau oder hellblau. Der Mund ist halb auf, schmachtend, die Zunge ist ein wenig herausgestreckt, sie wartet auf den nächsten Kuss, auf das nächste Spiel. In ihrem Gesicht immer noch dieses Lächeln, dieses verklärte, selige Lächeln, das Lächeln eines durch und durch glücklichen Menschen. Er legt ihre beiden Arme auf den Tresen und den Kopf auf ihre Arme. Sie lässt es widerstandslos geschehen. Dann sagt er noch einmal, dass er jetzt gehen müsse und ob er sie nicht doch noch irgendwo hinbringen solle. Sie sagt wieder nichts, schaut ihn auch nicht an, verabschieden sich auch nicht, nicht einmal Tschüss, Lebwohl, es war schön. Er erfährt nicht, wie sie heißt, weiß nicht, wer sie ist. Hat keine Ahnung, was sie noch macht und kann, außer küssen. Weis nicht, wo sie wohnt und an einen Austausch von Telefonnummern ist nicht zu denken. Er weiß nicht, was sie noch vorhat an diesem seltsamen Abend, weiß nicht, ob sie von ihm noch mehr gewollt hätte, als ihn nur endlos zu küssen. Er weiß nicht einmal, ob er noch mehr von ihr gewollt hätte, ob er mit ihr gegangen wäre, wenn sie den Wunsch geäußert hätte. Er weiß nur, dass alles so unwirklich, so überaus irreal war, wie im Traum, wie in einem Kitschfilm, wie in einer Schmierenkomödie oder einem billigen Liebesroman. Kein Mensch würde ihm die Geschichte glauben, sofern er sie überhaupt irgendjemandem erzählen würde. Aber es ist Realität. Es hat stattgefunden, dieses endlose Küssen, dieser Kussmarathon mit Guiness, dieser unerwartete Versuch für einen Eintrag im Guinessbuch der Rekorde. Als er auf die Straße tritt und kopfschüttelnd zu seinem Auto geht, riecht er noch immer ihre Haare, spürt er noch immer ihre Zunge, dieses ruhelose Reptil, das für einen kurzen Abend lang eine Heimstatt in der Höhle seines Mundes gefunden hatte und diese um keinen Preis mehr verlassen wollte.

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