Sie war wohl doch etwas älter als er sie zunächst eingeschätzt hatte und bei Licht störte ihn auch das viele Make-up, das sie aufgetragen hatte. Ihre Kleidung war zwar durchaus modisch, wirkte aber abgetragen, wie aus einem Second-hand-Laden. Sie unterhielten sich und ihre Unterhaltung verlief ganz gut, wenn auch etwas stockend, weil seinem Französisch, der Lingua franca in diesem Land, die notwendige Übung fehlte. Ihm fiel auf, dass sie bei allen Themen, die sie ansprach routinierte, stereotype Floskeln benutzte und bei Themen, die er einbrachte und die ihr offensichtlich nicht vertraut waren, zurückhaltend und einsilbig reagierte. Sie wirkte wie jemand, der bestimmte Situation einstudiert hat und sich anscheinend sicher bewegt, der aber zu straucheln beginnt, sobald er das vertraute Terrain verlässt. Aber letztlich störte ihn das alles nicht, weil sie charmant und liebenswürdig und durchaus attraktiv war. Als sein Essen kam, hatte er den kurzen, sehnsüchtigen Blick auf seinen Teller sofort bemerkt und als er sie fragte, ob sie auch etwas wolle, sagte sie sofort ja.
Nachdem er bezahlt hatte und sein Bargeld nun schon fast aufgebraucht war, fragte sie ihn unvermittelt, ob er sie nach hause bringen könne. Mit dem Taxi sei es nicht weit und auch nicht teuer und der Taxifahrer würde warten und ihn dann zum Hotel zurück bringen. Mit dem Bus dagegen sei es eine Weltreise und außerdem würde um diese Zeit kaum noch einer fahren. Sie habe eine eigene kleine Wohnung und könne ihm ja noch einen Kaffee anbieten. Er glaubte, aus ihren Worten herauszuhören, dass sie mehr meinte, als nur Kaffee trinken. Nach einigem Zögern, weil er fürchtete, dass sein Bargeld für das Taxi nicht reichen würde und weil er annahm, dass er anschließend auch ihr noch etwas geben müsse und weil er der Abend eigentlich anders geplant war, stimmte er dennoch zu. Die ungewöhnliche Situation reizte ihn genauso wie diese Frau und die Aussicht auf ein kleines Abenteuer zum Abschluss der Reise. Er merkte an ihrer Reaktion, wie erleichtert sie war und sie sagte ihm, dass sie dankbar sie sei und dass er wirklich „un grand chéri“ sei.
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