Die letzte Nacht

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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Yupag Chinasky

Er verließ die kühle Lobby des Hotels und trat auf die Straße. Die Luft war warm und feucht und am Himmel türmten sich dunkle Wolken mit hellgelben Lichtsäumen. Es würde bald dunkel sein und es würde bald regnen an diesem letzten Abend seiner Reise. Der Koffer war gepackt, die Hotelrechnung bezahlt. Sehr früh, noch im Morgengrauen, würde er zum Flughafen fahren und dann, ja dann würde der Urlaub zu Ende sein und der vertraut vertrackte Alltag wieder beginnen. Er hatte sich vorgenommen in diesen letzten Stunden noch einmal gut Esse zu gehen, über den belebten Boulevard zu flanieren, das letzte Bargeld auszugeben und dann früh ins Bett zu gehen.

Er ging zu dem Restaurant, an dem er schon ein paar Mal vorbeigekommen war und das einen guten Eindruck auf ihn gemacht hatte, das er aber noch nie aufgesucht hatte. Zu dieser frühen Abendstunde waren die Tische auf der Terrasse nur mäßig besetzt und er konnte sich einen Platz aussuchen. Er nahm, wie er es gerne tat, einen Tisch am äußersten Rand, bestellte einen Aperitif und studierte ausgiebig und konzentriert die Speisekarte. Nachdem der Ober die Bestellung aufgenommen hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit zunächst dem Geschehen auf der Straße zu, das ihn jedoch bald langweilte und dann den anderen Gästen. An einem Nebentisch saß eine ältere Frau mit einem jüngeren Mann, vermutlich ihrem Sohn. Sie redete pausenlos auf ihn ein, während er kaum etwas sagte und verbissen vor sich hin starrte. Etwas weiter entfernt verbreitete eine Touristengruppe pausenlos beste Laune. Ihr Lachen und die Wortfetzen in einer unbekannten Sprache drangen zu ihm und störten ihn. Er fand solche Gesellschaften höchst nervtötend. Die Personen an den anderen Tischen erschienen ihm uninteressant bis auf eine junge Frau, die, genau wie er, etwas abseits im Schatten saß. Er sah sie ein paar Mal verstohlen an und auch sie sah wie zufällig zu ihm herüber und er merkte rasch, dass dies kein Zufall war. Sie suchte den Augenkontakt mit ihm und lächelte ihn an und er lächelte schließlich zurück. So sahen sie sich eine Weile wechselseitig an, bis er, mutig geworden, per Zeichensprache fragte, ob sie noch etwas trinken wolle. Sie nickte und als er ihr dann, noch mutiger geworden, bedeutete an seinen Tisch zu kommen, kam sie dieser Aufforderung umgehend nach und setzte sich zu ihm.

Sie war wohl doch etwas älter als er sie zunächst eingeschätzt hatte und bei Licht störte ihn auch das viele Make-up, das sie aufgetragen hatte. Ihre Kleidung war zwar durchaus modisch, wirkte aber abgetragen, wie aus einem Second-hand-Laden. Sie unterhielten sich und ihre Unterhaltung verlief ganz gut, wenn auch etwas stockend, weil seinem Französisch, der Lingua franca in diesem Land, die notwendige Übung fehlte. Ihm fiel auf, dass sie bei allen Themen, die sie ansprach routinierte, stereotype Floskeln benutzte und bei Themen, die er einbrachte und die ihr offensichtlich nicht vertraut waren, zurückhaltend und einsilbig reagierte. Sie wirkte wie jemand, der bestimmte Situation einstudiert hat und sich anscheinend sicher bewegt, der aber zu straucheln beginnt, sobald er das vertraute Terrain verlässt. Aber letztlich störte ihn das alles nicht, weil sie charmant und liebenswürdig und durchaus attraktiv war. Als sein Essen kam, hatte er den kurzen, sehnsüchtigen Blick auf seinen Teller sofort bemerkt und als er sie fragte, ob sie auch etwas wolle, sagte sie sofort ja.

Nachdem er bezahlt hatte und sein Bargeld nun schon fast aufgebraucht war, fragte sie ihn unvermittelt, ob er sie nach hause bringen könne. Mit dem Taxi sei es nicht weit und auch nicht teuer und der Taxifahrer würde warten und ihn dann zum Hotel zurück bringen. Mit dem Bus dagegen sei es eine Weltreise und außerdem würde um diese Zeit kaum noch einer fahren. Sie habe eine eigene kleine Wohnung und könne ihm ja noch einen Kaffee anbieten. Er glaubte, aus ihren Worten herauszuhören, dass sie mehr meinte, als nur Kaffee trinken. Nach einigem Zögern, weil er fürchtete, dass sein Bargeld für das Taxi nicht reichen würde und weil er annahm, dass er anschließend auch ihr noch etwas geben müsse und weil er der Abend eigentlich anders geplant war, stimmte er dennoch zu. Die ungewöhnliche Situation reizte ihn genauso wie diese Frau und die Aussicht auf ein kleines Abenteuer zum Abschluss der Reise. Er merkte an ihrer Reaktion, wie erleichtert sie war und sie sagte ihm, dass sie dankbar sie sei und dass er wirklich „un grand chéri“ sei.

Als sie dem Taxifahrer die Adresse nannte, schien dieser die Fahrt nicht so recht machen zu wollen. Sie redete auf ihn ein und sagte dann, dass man das Taxi im Voraus bezahlen müsse, wegen des Wartens. Das Geld reichte gerade noch. Als er es dem Taxifahrer gab, nachdem sie eingestiegen waren, schaute dieser ihn etwas merkwürdig an, fuhr aber dann los. War es so ungewöhnlich, dass ein Fremder mit einer einheimischen Frau im Taxi fuhr? Oder lag es an dem Ziel, das sie genannt hatte? Sie verließen das Zentrum und je weiter sie in die Vororte kamen, um so eintöniger und schäbiger wurden die Häuser. Die Fahrt kam ihm sehr lang vor und er hatte keine Ahnung, wo sie waren noch in welche Richtung sie fuhren. Schließlich ging die Straße in einen unbefestigten Feldweg über, an dem triste, dunkle Wohnblocks standen. Er wunderte sich, in welcher Gegend diese Frau, die sich so kultiviert und weltläufig gab, wohnte. Aber was kannte er schon von diesem Land und seinen Menschen?

Während der Fahrt hatte es heftig zu regnen begonnen und der Feldweg war eine schmierige Matschbahn. Vor einem der Wohnblocks hielt das Taxi und beide stiegen aus. Und obwohl er dem Fahrer nochmals ausdrücklich gesagt hatte, er solle warten, startete der Wagen zu seinem großen Ärger kaum dass die Türen geschlossen waren, wendete und fuhr die Straße zurück. Die Frau meinte noch, er würde weiter vorne warten, dort wo ein paar Straßenlampen trübes Licht verbreiteten, er solle aber jetzt kommen, sonst würden sie noch völlig nass werden, dabei hakte sie sich bei ihm ein und zog ihn auf den Hauseingang zu. Sie summte zufrieden vor sich hin und kramte in ihrer Handtasche nach dem Haustürschlüssel. Er schaute noch einmal die Straße hinab, aber das Taxi hatte nicht gehalten.

Dir Frau öffnete die Tür, trat in den dunklen Flur und er folgte ihr. Sie schimpfte, weil das Flurlicht schon wieder kaputt sei und wollte gerade ihre Wohnungstür öffnen, als diese heftig aufgestoßen wurde. In dem hellen Licht des Türrahmens sah er zwei Männer, die in den Flur traten. Die Frau schrie überrascht auf, wich zurück und umklammerte seinen Arm. Einer der Männer packte sie und schrie laut und böse auf sie ein. Sie schrie zurück und begann zu heulen. Dann wurde sie in die Wohnung gezerrt und die Tür zugeschlagen. Nun war er war mit dem zweiten Mann allein, den er nicht sehen, dafür um so besser hören und fühlen konnte. Er verstand von dessen bellenden Satzfetzen nur einige Bruchstücke, aber genug, um zu begreifen, dass der Mann ihr Bruder war und wissen wollte, was er mit seiner Schwester schon angestellt habe und was er noch vorhabe, nachts, allein mit ihr in der Wohnung. Der Mann gab auch gleich die Antwort, es sei ja wohl klar, was er gewollt habe, er sei ein Vergewaltiger, ein blöder fickender Tourist, ein Arschloch, ein Schwein, eine Ratte. Bevor er etwas sagen konnte, bekam er heftige Schläge auf die Brust, in den Magen und in den Bauch. Dann öffnete der Schläger die Haustür und zerrte ihn auf die Straße. Ein Tritt in die Kniekehle und ein Fausthieb ins Gesicht, ließen ihn straucheln. Seine Brille fiel auf die Straße, er hörte, wie sie knirschend unter der Schuhsohle des Schlägers zerbrach. Ein kräftiger Hieb in den Magen beförderte ihn schließlich in den Matsch der Straße. Als er da lag und sich vor Schmerzen krümmte, beugte sich der Wütende über ihn, durchsuchte seine Taschen und steckte ein, was er fand, zwar kaum Bargeld, aber die Kreditkarte, den Pass, das Flugticket und die teure Armbanduhr. Bevor er sich mit einem letzten Fußtritt verabschiedete und wieder in das Haus ging, sagte er noch, er solle verschwinden und sich hier ja nicht mehr sehen lassen und wenn er zur Polizei ginge, würde er ihn umbringen. Als er allein war, heulte er vor Wut, vor Scham und vor Schmerz. Dann stand er mühsam auf und ging, nach vorne gekrümmt, in die regnerische Nacht, einem unbekannten Ziel entgegen.

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