Der Liebesbaum

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Der Liebesbaum

Der Liebesbaum

Yupag Chinasky

Der Yohimbe-Baum (Pausinystalia yohimbe) ist ein im tropischen Westafrika beheimateter, immergrüner Baum aus der Familie der Rötegewächse. Er wird bis zu 30 Meter hoch. Yohimbin ist ein Alkaloid, das in der Baumrinde produziert und als Bestandteil pharmazeutischer Potenzmittel genutzt wird. Die aphrodisierende Wirkung, die eine sexuelle Sensibilität und Erregung hervorruft, beruht zum einen auf verstärktem Blutfluss durch die Genitalien beider Geschlechter, zum andern auf Reizungen der Sexualzentren im Gehirn, die halluzinogene Effekte zur Folge haben. Die Yohimbe-Baumrinde enthält aber auch weitere Alkaloide, die verschiedene unangenehme Nebenwirkungen auslösen können, wie rasender Puls, Schwitzen oder Angstgefühl, daher sind daraus hergestellte Potenzmittel mit großer Vorsicht anzuwenden. Bei einigen seltenen Unterarten (Pausinystalia yohimbe var. venefica) binden sich Yohimbin-Alkaloide an flüchtige Öle und können auf diese Weise in der unmittelbaren Nähe der Bäume (Duftweite) ihre Wirkung auch über den Luftweg entfalten. Diese sogenannten Liebesbäume (love trees, arbres d’amour) gelten bei den Eingeborenen als strikte Tabuzonen und dürfen nur von Medizinmännern aufgesucht werden. Man vermutet, dass dieses Tabu entstanden ist, weil ein Aufenthalt unter solchen Bäumen zu sexuellen Exzessen führen kann, die eine nachhaltige Zerrüttung der sozialen Strukturen einer Stammesgemeinschaft bewirken.

Die Angst in der Nacht war unerträglich. Sein Herz raste, der Atem ging flach, er wälzte sich schweißnass auf seinem Bett. Am nächsten Tag schwor er sich, nicht mehr hinzugehen, keinen Schritt mehr in diesen Wald zu machen. Als es Abend wurde, hielt er es nicht länger aus. Er machte sich auf den Weg.

Er war mittags angekommen und hatte bereits ein paar Stunden unter Palmen am Pool verbracht, mit Blick auf das grün-blaue Meer und versorgt mit zahlreichen, kühlen Drinks, die ihm ein eilfertiger Boy unaufgefordert brachte, so bald ein Glas leer war. Er genoss den all-inclusive-Komfort, den Schatten der Sonnenschirme oder der palmgedeckten Strandhütten, die erfrischenden Sprünge in das kühle Wasser des Pools oder das Prasseln der Brandung auf die Haut, wenn er Lust hatte, im Meer zu schwimmen. Der erste Eindruck war überaus positiv und er war überzeugt, dass ihm eine schöne Urlaubswoche im Coconut Ocean Resort and Spa bevorstanden. Nur auf das Gewimmel der urlaubstrunkenen Sonnenanbeter, die in allen Hautschattierungen von hellweiß, über knallrot bis tief gebräunt am Strand lagen und am Abend erst das Restaurant und dann die Animationsshows stürmen würden, auf diese Massen hätte er liebend gern verzichtet, aber die gehörten nun einmal zu einem Kluburlaub. Als sich die Sonne anschickte, mit all ihrer Pracht im Meer zu versinken, wollte er die Stunde zwischen dem Ende der drückenden Nachmittagshitze und der Eröffnung des abendlichen Büffets nutzen, um das Gelände zu erkunden. Er schätzt es, zu wissen, worauf er sich eingelassen hatte und so machte er sich auf den Weg, um die schönen Bilder und die lobpreisenden Beschreibungen aus dem Internet mit der Realität zu vergleichen.

Das Areal war sehr groß und ausgedehnt. Es bot Rasenflächen, die von morgens bis abends durch eifrige Gärtnern bewässert und so vor dem Vertrocknen bewahrt wurden, einen gepflegten Golfplatz mit immerhin 8 Löchern, einen weiten Strandabschnitt mit feinem, weißen Sand und malerischen Palmen und den schon erwähnten Pool, der den Kampf mit der manchmal heftigen Brandung ersparte. Hinter Strand und Pool begann die sehr weiträumige Bungalowsiedlung mit geschmackvoll eingerichteten Einzel- und Reihenhäusern. In der Nähe des gut bewachten Eingangstors, befand sich das Herz des Klubs, die Gebäude für die Versorgung, Bespaßung und Verwaltung der Gäste. Den natürlichen Abschluss des gesamten Komplexes bildete zur Landseite hin ein halbkreisförmiger Baumbewuchs, der recht unterschiedlich strukturiert war, zum Teil standen die Bäume und Büsche in lockeren Gruppen auf Rasenflächen, durchzogen von künstlich angelegten Bächen und Teichen. Zum großen Teil handelte es sich jedoch um naturbelassenen Urwald, den „virgin forest“. Ein paar Meter hinter den ersten Bäumen und Hecken, jedoch außerhalb der Sichtweite der Gäste, schirmte ein hoher Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtaufsatz das Gelände von der Außenwelt ab. Jedem Unbefugten, ob Mensch ob Tier, wurde der unbefugte Zutritt in die heile Welt des Paradieses verwehrte.

Er wanderte, vielleicht eine halbe Stunde, umher, begutachtete die Einrichtungen, die den Gästen zur Verfügung standen und erkundete die vielfältigen Möglichkeiten, die der Klub für die Unterhaltung und Freizeitgestaltung bereit stellte. Er sah aber auch, dass an den beiden Enden des Strands Hütten standen, in denen bewaffnete Leute der „Resort Security“, so der Aufdruck auf ihren schwarzen T-Shirts, Posten bezogen hatte. Jeweils zwei Männer saßen vor den Hütten, Gewehre in Reichweite und langweilten sich. In dem Teil des Parks, der am abgelegensten war, am weitesten vom Zentrum entfernt, war der Wald besonders groß und abweisend. Hohe Bäume und dichte Büsche bildete ein Front, die undurchdringlich erschien. Auf Schildern wurde gewarnt, den Wald zu betreten, es gäbe Giftschlangen und andere gefährliche Tiere und das Management lehne jede Haftung ab. Trotz der Warnung näherte er sich dem Waldrand. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit einen richtigen Urwald zu betreten? Als er vor der grünen Wand stand und das Gewirr der Äste und Zweige, der Stämme und Büsche, der Schlingpflanzen und Lianen betrachtete, musste er einsehen, dass ein Eindringen ohne eine Machete oder ein ähnliches Gerät kaum möglich war. Doch dann, durch reinen Zufall, sah er dann den schmalen Trampelpfad. Er sah ihn nur weil das Rot des Tonbodens durch die letzten Strahlen der Sonne für einen kurzen Moment aufleuchtete und sich von dem alles erdrückenden Grün des Waldes abhob. Dieser unerwartete Glücksfall kam ihm wie eine persönliche Botschaft vor, wie eine Einladung, den geheimnisvollen Wald zu betreten. Er folgte dem sich windenden Pfad, der zwar schmal war, aber anscheinend häufig benutzt wurde, denn der Boden war fest gestampft und ohne Bewuchs. Nach vielleicht dreihundert Metern, die er in einer schattigen, duftenden, von Insekten- und Vogelgekreisch erfüllten Zauberwelt gegangen war, stieß er auf den Zaun. Spätestens hier hätte der Vorstoß in den jungfräulichen Dschungel ein Ende gefunden, doch in dem Zaun befand sich eine schmale Tür, die in die Freiheit, in die wahre Welt führte und die überraschenderweise offen war. Zwar hing eine verrostete Kette am Türrahmen und im letzten Kettenglied steckte ein großes, blankes Vorhängeschloss aus Messing, das sogar Spuren von Öl aufwies und somit wohl in Gebrauch war, aber das Schloss war offen. Er zögerte einen Moment, den Schritt in die Außenwelt zu wagen. Was würde passieren, wenn jemand die Tür in der Zwischenzeit verriegeln würde? Das wäre zumindest unangenehm und lästig und er müsste einen sehr großen Umweg bis hin zum Haupttor machen. Doch da er auf seinem bisherigen Weg keinem Menschen begegnet war, keinem Angestellten, keinem Gärtner oder Wächter und auch keinem Touristen, schlüpfte er durch das halb offene Tor und stapfte weiter auf dem Pfad, weiter hinein in den dichten Wald, sorgfältig darauf achtend, dass die spitzen Dornen des Gestrüpps, das den Weg nun säumte und ihn an Dornröschen denken ließ, ihn nicht zu sehr belästigten. Nach einer guten Viertelstunde stieg der Pfad an und endete auf einer Lichtung, die auf einer kleinen Anhöhe lag. In deren Mitte stand ein einzelner, hoher prachtvoller Baum. Ein König unter den Bäumen, gerade und ebenmäßig gewachsen, mit ausladenden Ästen, die erst in beträchtlicher Höhe die Krone bildeten. Die Blätter dieses Riesen waren tiefgrün und lorbeerartig und er stand in voller Blüte, überall große, rosarote Blüten, deren abstehende Blütenblätter ihn an die bunten Plastikwindräder seiner Kindheit erinnerten. Auffallend war auch die dunkle, braun-rote Borke, zersplittert und zerfurcht wie das markante Gesicht eines uralten, weisen Indianers.

Fasziniert von seinem Anblick blieb er erst eine ganze Weile am Rand der Lichtung stehen und betrachtete den Baum. Dann trat er näher und ein betörender Duft nach Vanille und Zitrusfrüchten hüllte ihn ein und ein seltsames Zirpen und Rascheln, das wohl der Wind in den Blättern erzeugte, betäubte seine Ohren. Am Stamm angekommen, betastete er die auffallend weiche, torfartige Borke, bückte sich dann und hob ein paar abgefallene Blüten und Blätter auf, um sie genauer zu betrachten. Seine Stimmung, die auf dem Weg durch den Wald durch Neugier und Entdeckerfreude geprägt war, veränderte sich ganz langsam, ganz allmählich. Er freute sich, diesem Naturwunder begegnet zu sein und eine tiefe Ruhe, ein Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit, breitete sich in ihm aus. Es war mittlerweile bereits merklich dunkler geworden und bald würde die rabenschwarze Tropennacht den Heimweg beschwerlich machen. Es war Zeit, den Rückweg anzutreten, um zumindest auf dem gefährlichen Trampelpfad nicht bei völliger Dunkelheit gehen zu müssen. Doch seltsam, er rührte sich nicht. Er konnte nicht weggehen, selbst wenn er gewollt hätte. Er konnte sich von diesem Paradies aus Düften, Blüten, Zirpen und Rascheln einfach nicht lösen. Sein Wohlbefinden wurde noch zusätzlich gesteigert, weil mittlerweile eine angenehme Kühle auf der Lichtung herrschte und ein beständiger, sanfter Lufthauch aus dem umgebenden Wald seinen aufgeheizten Körper wohltuend umfächelte. Statt zu gehen, setzte er sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und schloss die Augen. Als er in völlig entspannter Haltung sich ganz seiner Umgebung hingab, veränderten sich seine Stimmung und sein Empfinden abermals. Die wohlige Gelassenheit steigerte sich in eine wahre Euphorie. Er war beschwingt und fühlte sich federleicht, wie nach dem Genuss von Drogen, wie nach einigen Whiskys in seiner Lieblingsbar, wie beim anregenden Flirt mit einer schönen, jungen Frau, die nichts lieber wollte, als mit ihm, nur mit ihm zusammen zu sein. Sein Wohlbefinden orientierte sich zunehmend in Richtung Unterleib und er spürte immer deutlicher, wie seine sexuelle Erregung zunahm. Flirten reichte nicht mehr, er wollte die Frau haben, hier und jetzt, genau an dieser Stelle, unter diesem Baum. Der Wunsch sich mit seinem Phantasiebild zu vereinen, das klar und deutlich, vor ihm lag, sich nackt und bloß räkelte, die Beine spreizte und ihn anschmachtete, wurde schier übermächtig. Und diese Wunsch- und Wahnvorstellungen wurden von einer prächtigen, lang anhaltenden Erektion begleitet, einer Erektion wie er sie schon seit langem nicht mehr gehabt hatte. Wie betäubt saß er unter dem Liebesbaum und nur mit Mühe und großer Willensanstrengung riss er sich schließlich aus seinem Bann, aus dieser Zauberwelt der Gefühle und macht sich auf den Weg zurück, in die Welt der sterilen, sorgenfreien Urlaubsfreuden. Der Weg durch den Urwald, war wie erwartet mühsam, er tastete sich langsam durch die stockdunkle Nacht und zog sich hässliche, schmerzhafte Kratzer an den Dornröschendornen zu. Doch zum Ausgleich strahlten über ihm die Sterne in einer ungekannten Pracht und Intensität als er den Wald verließ. Er war glücklich.

Bevor er daran denken konnte zum Büffet zu gehen, musste er kalt duschen, weniger um Schweiß und Staub abzuwaschen, sondern vielmehr, um seine immer noch vorhandene Erregung einzudämmen. Doch das Duschen bewirkte nicht viel und so legte er sich auf sein Bett und onanierte ausgiebig. Erst dann ging er in das Restaurant und widmete sich dem gegrillten Fisch, den verlockenden Langusten, den appetitlichen Salaten und dem samtenen Charme eines ordentlichen französischen Rotweins. Während des Essens war seine Stimmung entspannt und die Welt um ihn herum rosarot, doch nach dem Essen wurde er plötzlich sehr müde und er kehrte in seinen Bungalow zurück, obwohl er sich vorgenommen hatte, noch eine Animationsshow zu besuchen. Er fiel auf sein Bett und schlief rasch ein. Doch die Nacht war alles andere als angenehm. Träume quälten und verfolgten ihn. Träume der Lust und der Angst, des Begehrens und der Sehnsucht, die sich aber im Laufe der Nacht immer stärker in Richtung Enttäuschung, Erniedrigung, Versagen verschoben. Eine ganz intensive Sequenz, die sich mehrfach wiederholte, zeigte den Liebesbaum und einen nackten, weißen Mann, der davor kniet, umgeben von einer Schar dunkler Männer, die auf ihn einschreien und mit langen Stöcken wie rasend auf den Boden trommeln. Schweißnass und angsterfüllt wachte er mehrmals auf, sein Herz raste, Asthmaanfälle ließen ihn hecheln, sein Mund war trocken und im Hals steckte ein Kloß, der sich keinen Millimeter bewegte. Irgendwann konnte er nicht mehr weiterschlafen, obwohl eine bleischwere Müdigkeit auf ihm lag. Wie gerädert schleppte er sich am Morgen zum Frühstück, wo ihn erst ein paar Tassen starken Kaffees wieder fit machten.

Am nächsten Abend war er eigentlich entschlossen, diesen seltsamen Baum nicht noch einmal aufzusuchen, aber es trieb ihn förmlich zu dem Trampelpfad, zu der Pforte, auf die Lichtung, unter die Äste des Wunderbaums mit seinen Lorbeerblättern und rosa Blüten. Doch zu seinem Erstaunen saß dort bereits eine Person, im Lotussitz, mit gekreuzten Beinen, den Rücken an den Stamm gelehnt, die Augen geschlossenen. Es war eine ältere Frau, vermutlich Skandinavierin, denn sie redete unentwegt laut vor sich hin, in einer harten, nordisch klingenden Sprache, deren Worte er zwar deutlich vernahm, die er aber nicht verstehen konnte. Wie hatte die nur den Weg hierher gefunden? Er war unschlüssig, ob er bleiben oder lieber wieder gehen sollte. Aber die Freiheit einer Entscheidung war nur hypothetischer Natur, da er wieder, wie am Vorabend, von dem Baum geradezu magisch angezogen wurde und sich unwillkürlich dem Stamm und der meditierenden Frau näherte. Schließlich stand er vor ihr und starrte sie an und sie schien bemerkt zu haben, dass sie nicht mehr allein war. Sie schlug die Augen auf und sah ihn ebenfalls an, ohne ein Zeichen des Erschreckens oder der Überraschung. Im Gegenteil, ein freudiges Lächeln umspielte ihre Lippen, wie wenn endlich jemand eingetroffen ist, den man schon lange erwartet hat. Sie sprach ihn an. Als sie merkte, dass er sie nicht verstand, lud sie ihn mit einer eindeutigen Handbewegung ein, sich neben sie zu setzen. Er setzte sich und sie richtete nun all ihre Aufmerksamkeit auf ihn, hieß ihn in schlechtem Englisch willkommen, fragte wie er heiße, wo er herkomme und wie lange er bliebe. Dann unterbrach sie sehr plötzlich ihre Befragung, schaute ihn wie hypnotisiert an und sagte etwas Seltsames, etwas, dessen Sinn er nicht verstand. „O love-me-do take heed of yonder tree! Look, when he fawns, he bites; and when he bites, his venom tooth will rankle to the death!”

Sie wiederholte den Satz sehr eindringlich, jede Silbe betonend. Dann wandte sie sich von ihm ab, schloss wieder die Augen und begann, zu seinem Erstaunen, wie in Trance ihre Bluse aufzuknöpfen und holte dann ihre magere Brust aus ihrem Büstenhalter und streckte sie in seine Richtung. Dabei murmelte sie „My love is as deep as the deepest sea and flows forever. You ask me when will it end and I tell you never! But now come to me, my love-me-do, hurry up, don’t hesitate!“. Als sie sich nach diesen Worten gar auf den Rücken legte und begann, ihren Rock hochzustreifen, ergriff ihn Angst, Ablehnung und Widerwillen. Ernüchtert erwachte er aus der seltsamen, erotischen Stimmung, die wieder begonnen hatte, ihn zu erfassen und verließ panikartig die Lichtung. Beim Abendessen sah er die Frau, doch sie schien in nicht zu erkennen, worüber er ganz froh war. Auch diese Nacht war beherrscht von Angstträumen und Panikzuständen und erst der Morgen brachte Erlösung. An diesem Abend widerstand er der Versuchung, zu dem Baum zu gehen. Am nächsten Abend hielt er es nicht länger aus und ging in den Wald, aber diesmal war das Tor abgeschlossen. An den beiden folgenden Abenden war er hin und her gerissen, ging aber letztlich doch nicht.

Doch dann kam der letzte Abend. Früh am nächsten Morgen würde er mit einem Bus zum Flughafen gebracht werden und schon einige Stunden später wäre er wieder in seiner vertrauten, langweiligen Zivilisation, im tristen Grau des Alltags, fern jeder Exotik. Die Verlockung, dieses seltsam prickelnde Gefühl des ersten Abends noch einmal zu erleben und der Wunsch die erotische Wirkung ein letztes Mal auszukosten waren übermächtig und vertrieben die Angst vor der schrecklichen Nacht, den Preis, den er zu bezahlen hatte. Am späten Nachmittag, früher als sonst, machte er sich auf den Weg.

Als er auf der Lichtung ankommt, herrscht noch die Hitze des Nachmittags. Grillen zirpen und wieder nimmt er dieses seltsame, sirrende, raschelnde Geräusch wahr, das nicht von Insekten stammt. Er setzt sich unter den Baum, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt und gibt sich erneut der beruhigenden, zugleich aufwühlenden Stimmung hin, die ihn rascher als beim ersten Besuch erfasst hat. Er schließt die Augen und genießt die Wellen der Lust, die durch seinen Körper strömen. Es ist, als ob er schwebe, als habe er alle Last von sich geworfen, als tauche er ein, in ein Meer des Wohlgefühls. Sexuelle Phantasien durchpeitschen sein Gehirn, Schmetterling tanzen in seinem Bauch, er stöhnt und atmet heftig, sein Herz pocht bis zum Hals und sein Glied ist ein heißer Speer aus hartem Stahl. Er bedauert zutiefst, dass er allein an diesem magischen Ort verweilen muss, dass er es in den Tagen seines Aufenthalts nicht geschafft hat, eine Frau anzubaggern und mit ihr hier herzukommen, obwohl es in dem Club sicher viele potentielle Kandidatinnen gegeben hätte. Aber er ist nun mal nicht der Typ für so etwas, er ist kein womanizer, kein Don Juan. Ein wenig wünscht er sich jetzt sogar, die alte Skandinavierin wäre hier.

Doch er ist gar nicht allein. Als er für einen Moment die Augen öffnet, von einem seltsamen Gefühl des Beobachtetwerdens getrieben, sieht er vor sich eine Gestalt, die er zunächst gar nicht recht erkennen kann, da ihn die tiefstehende Sonne blendet. Er blinzelt und erst langsam sieht er klar und deutlich das junge Mädchen, das in einer Entfernung von vielleicht zwei, drei Metern vor ihm steht. Ein junges schwarzes Mädchen, fast noch ein Kind, aber doch schon eine Frau, wie er an dem Busen unter dem zerrissenen, dreckigen T-Shirt erkennt und an den Rundungen von Taille und Hüfte. Sie ist fast nackt und sehr schwarz und hat nur dieses löchrige, blaue T-Shirt und einen sehr kurzen, roten Rock an. Ihr Beine sind lang und dünn, mit vielen Kratzwunden und Insektenstichen. Sie ist barfuss und er sieht, als sie sich bewegt, die dicke Hornhaut auf den Fußsohlen. Auch die Arme sind lang und dünn, fast ohne Muskeln. Das Mädchen hat kurze, krause Haare und ein hübsches, kleines Gesicht. Die Lippen sind nur wenig ausgeprägt, die Nase flach, die Stirn hoch. Ihr freundliches Lächeln wechselt sich mit hellem Lachen ab, dabei blitzen ihre schneeweißen Zähne in dem schwarzen Gesicht. Alt kann sie nicht sein, denkt er, aber der Gedanke beunruhigt ihn nicht, selbst als ihm nach einer Weile klar wird, auf was sie hinaus will.

Als sie bemerkt, dass er wach ist, fängt sie an, ihm Fragen zu stellen. Sie kann ein paar Brocken Englisch. „What your name? Where from? How long stay in Coconutclub? I love you. Have present for me?“ Er beantwortet ihre Fragen, ist sich aber nicht sicher, dass sie versteht, was er sagt. Er selbst stellt keine Fragen, hält ihr aber einen Geldschein hin, als sie insistiert “Give me present. I love you.”. Sie geht zu ihm hin, bückt sich, fasst den Schein vorsichtig an, als sei er zerbrechlich oder schmutzig, faltet ihn sorgfältig und steckt ihn in die Brusttasche ihres T-Shirts. „Ssänk you. I also give you present“. Sie nestelt ein Armband mit kleinen Muscheln von ihrem Handgelenk und wippt damit schelmisch vor seiner Nase herum. Schließlich wirft sie es ihm zu, lacht hell auf und weicht wieder ein paar Meter zurück. Will sie aus seiner Reichweite, hat sie Angst vor ihm oder will sie nur, dass er sie besser beobachten kann? Die Antwort gibt sie umgehend selbst. Sie wiegt sich in der Hüfte, summt eine Melodie, trällert ein Liedchen, reckt ihren kleinen Busen vor, bewegt ihre Arme rhythmisch hin und her und tänzelt, einen Meter nach links, dann nach rechts, dann dreht sie sich um die eigene Achse. Und immer wieder blitzen beim Lachen die makellosen Zähne auf. Ein Bild der puren Lebenslust! Was sie will, ist eindeutig und er kann gar nicht anders, als auch zu wollen. Er verliert unter dem Liebesbaum rasch alle Hemmung, alle Zurückhaltung, alle Schranken, die Zivilisation und Erziehung zu seinem eigenen Schutz errichtet haben. Er fühlt nur noch eine grenzenlose Wollust, eine unbeherrschbare Gier. Er will diesen jungen Körper, will das Mädchen, das in Augen eine verführerische junge Frau geworden ist, die dicht vor ihm steht und nur darauf wartet, in Besitz genommen zu werden. Hastig steht er auf, geht die paar Schritte auf sie zu, fasst mit einer Hand um ihre Taille, mit der anderen fährt er über ihre Haut, streichelt ihr Gesicht, sucht unter dem T-Shirt ihren Busen, greift an ihren festen Hintern. Sie schmiegt sich an ihn, schaut ihm in die Augen, begehrlich, verführerisch. Dann schließt sie die Augen und sie küssen sich inbrünstig und gierig wie Verdurstende, die endlich das ersehnte Wasser bekommen. Nun gibt es kein Halten mehr, sie streifen sich gegenseitig ihre Kleider ab, wälzen sich im Gras und lieben sich, lieben sich immer wieder und können nicht genug voneinander bekommen. Doch plötzlich, fast noch auf dem Höhepunkt seiner Lust, ist von einem Moment auf den anderen alles zu Ende. Das Mädchen löst sich hastig von ihm, steht auf, schlüpft in ihre verwaschene, zerlöcherte Unterhose, dann in den Rock, zieht das T-Shirt über, und verschwindet rasch in dem dichten Wald, ohne ein Wort, ohne eine Lächeln, ohne einen Abschiedsgruß. Doch er ist nicht enttäuscht, eine heitere, gelassene Stimmung nimmt den Platz der Ekstase ein, die ihn gerade noch geschüttelt hat. Er ist zufrieden und glücklich und immer noch verzaubert, denn er hat alles erreicht, was er erreichen konnte, alles erhalten, was zu geben, dieser wundersamen Erscheinung möglich war. Nur der Gedanke, dass er jetzt seinen magischen Liebesbaum endgültig verlassen müsse und ihn nie wiedersehen würde, trübt ein wenig seine Euphorie.

Denn er ist euphorisch an diesem Abend, euphorisch wie nie zuvor. Er sieht alles rosig, alles ist einfach, alle Probleme sind lösbar. Er ist „on the bright side of life“ nach diesem berauschenden, die Sinne verwirrenden Erlebnis. Hat es wirklich statt gefunden? Oder war es nur eine Halluzination, das Resultat eines intensiven Wunschdenkens, wie das imaginäre Bild der nackten Frau am ersten Abend unter dem Baum? Er wäre versucht, die Begegnung mit dem Mädchen in das Reich der Sinnestäuschung und der Träume zu schieben, wenn da nicht dieses kleine Muschelarmband wäre, das sich nun an seinem Arm befindet und das durchaus real ist. Genauso real, genauso einmalig und gewaltig, jedoch in das pure Gegenteil verkehrt, ist die Nacht. Sie ist grässlich, unvergleichlich grausam, ein Besuch im Vorhof der Hölle, die elende Bestrafung eines Verdammten, die grausame Steinigung eines Kinderschänders. Ohne einen Hauch von Schlaf quält er sich durch diese Nacht und erwartet sehnsüchtig den ersten, hellen Schimmer am Horizont. Er ist der erste, der ungeduldig auf die Eröffnung des Frühstück wartet, der erste, der die gepackten Koffer vor die Tür stellt und der erste, der in den noch leeren Bus steigt. Nach und nach kommen die anderen Reisenden und der Bus füllt sich. Als alle ihre Plätze eingenommen haben, gibt eine junge Frau vom Management ein paar Erläuterungen über den Verlauf der Fahrt und das Einchecken am Flughaben, bedankt sich für den Aufenthalt der geschätzten Gäste und wünscht allen eine gute Reise. Der Bus setzt sich in Bewegung, fährt durch das große, bewachte Tor auf den Schotterweg, der zur Landstraße führt und dann auf dieser weiter in Richtung Flughafen. Nach zwei, drei Kilometern hält der Bus. Ein Dutzend Männer mit langen Stöcken blockiert die Straße und zwingt ihn zum Anhalten. Durch Trommeln mit ihren Stöcken an die Scheiben, zwingen sie den Fahrer, die Tür zu öffnen. Einer der Männer betritt den Bus, steigt die Stufen in den Mittelgang hoch, sieht sich um und schaut jeden einzelnen Fahrgast prüfend an. Unruhe macht sich breit. Was soll das, was wollen die? Ein Überfall, keine Frage. Bieten wir ihnen doch Geld an, dann werden sie schon wieder gehen, diese Wilden. „You want money? How much? We need go to airport!“ Das Primitivenglisch scheint der Mann entweder nicht zu verstehen oder er ignoriert die Fragen. Er sagt kein Wort, geht langsam den Gang entlang, schaut sich weiterhin um, schaut jedem Einzelnen ins Gesicht, auch ihm, dem Liebesabenteurer, der mit mulmigem Gefühl in einer der hinteren Reihen sitzt. Dann ruft er Mann etwas nach draußen und aus der Menge seiner Kumpane, die mittlerweile einen Halbkreis um die offene Tür gebildet haben, löst sich eine kleine, schlanke, schmale Gestalt und betritt den Bus. Es ist ein junges Mädchen, das junge Mädchen, er erkennt sie sofort wieder und sie ihn. Sie sagt ein paar Worte zu dem Hijacker und deutet mit ausgestreckter Hand auf ihn, nur auf ihn. Der Mann kommt auf ihn zu, ergreift wortlos seinen Arm und zieht ihn aus dem Bus. Der Fahrer rührt sich nicht, niemand rührt sich. Als sie auf der Straße stehen, rufen die Männer dem Fahrer ein paar Worte zu. Die Tür schließt sich, der Bus fährt davon. Er steht da, umringt von einem Dutzend finster schauender Gestalten. Das Mädchen ist verschwunden. Sie drängen ihn fort, fort von der Straße, hinein in den Urwald. Auf schmalen, dornengesäumten Trampelpfaden erreichen sie einen Hügel und die vertraute Lichtung, in deren Mitte der hohe, ebenmäßig gewachsene Baum mit seinen ausladenden, schattenspendenden Ästen und einer Borke, wie ein uralter Indianer. Sein Liebesbaum wartet auf ihn.

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