Der Lockruf des Leibes

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Der Lockruf des Leibes

Der Lockruf des Leibes

Desdemona

Im U-Bahnschacht kündigt ein Luftschwall den herandonnernden Zug an. Cora steht in ihrem bodenlangen Mantel nahe am Gleis. Sie drückt den Hydraulikknopf. Mit einem Fauchen fahren die Türen auseinander. "Zurückbleiben!", warnt die sonore Frauenstimme. Nach einem schrillen Klingeln rattert Wagen um Wagen in die Dunkelheit.

Da sieht sie ihn, Ende Vierzig, schwarzes Haar, weiße Strähnen, von Furchen durchpflügt das Gesicht, nicht zu viele, nicht zu tief. Die Augen wach, hell und klar. Er bemerkt ihren Blick, erwidert ihn nicht. In der Scheibe treffen sich die Augenpaare. Der Zug durchrumpelt den Tunnel, der nächste Bahnhof kommt in Sicht, dann der Übernächste. Der Unbekannte erhebt sich. Er zieht den Reißverschluss der schwarzen Lederjacke zu. Die dunkle Jeans sitzt eng, ein Stiefel wippt goodbye. Cora folgt ihm, es ist auch ihre Station. Ihr Mantel weht.

Am U-Bahn-Ausgang wartet sie. Seine Silhoutte verschwindet in Richtung Schloss. Sollte er tatsächlich in Coras Viertel wohnen? Sie hat ihn zuvor noch nie gesehen. Zügig entfernen sich seine Schritte. Die Mondsichel wirft ihr kaltes Licht in die Nacht. Eine ältere Frau folgt ihrem Hund zu einer Kastanie. Unbekümmert hebt das Tier sein Bein, die Rute erwartungsvoll aufgerichtet und ergießt seinen Strahl ans Holz. Der Fremde geht mit entschlossenen Schritten. Nach Hause, wo einladend-üppig die bettwarme Frau schläft? Allein, ins fahle Laken? Vor die Verdummungsmaschine, dazu ein Dosenbier? Cora registriert überrascht, dass er die Oro-Bar ansteuert. Ein Zufall? Ein bedeutungsschwerer Fingerzeig? Sie beschließt, ihrem Schicksal auf die Sprünge zu helfen und öffnet behänd die Tür, durch die er soeben eingetreten ist.

Dschingis sieht sie von weitem. Es ist die Frau im schwarzen Mantel, die ihn in der U-Bahn so herausfordernd angesehen hat. Was will sie? Warum ist sie ihm in die Bar gefolgt? Das kann kein Zufall sein. Dschingis glaubt nicht an Zufälle, seit jenem Tag vor beinahe 20 Jahren, als er völlig pleite und abgebrannt durchs novembergraue Berlin streunte und ihm plötzlich vom regennassen Asphalt ein Hunderter entgegen wehte.

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