Es gibt sie, diese literarischen Antagonismen. Einer der Eindrücklichsten ist das Schreibduell zwischen dem düsteren Marquis de Sade, der Lustgewinn aus Quälerei bezieht – und Nicolas Edmé Rétif de la Brétonne, der seinen Zeitgenossen Marquis de Sade für genau diese Leidenschaft verachtet. «Es muss doch möglich sein», wird er sich gesagt haben, “lustvoll schreiben zu können, ohne gleich Messer, Schnüre und glühende Eisen mit einzubeziehen”. So schreibt Edmé Rétif de la Brétonne frisch und fröhlich daher – und er stellt Marquis de Sades gequälter Justine – im Sinne eines literarischen Antagonismus – eine Anti-Justine entgegen.
Versetzen wir also diese Anti-Justine in unsere Zeit, ins Jahr 2018. Am linken Knöchel hat sie ein kleines Tintenfisch-Tattoo, um den rechten Knöchel ein Goldkettchen. Anti-Justine trägt gerne lange Röcke, insbesondere in Endlos-Sommern. Sie weiss um ihren ausladenden Hintern, sie weiss, dass ständig Männerblicke auf ihr ruhen, wenn sie etwa für Einkäufe durch die Stadt eilt. Anti-Justine 2018 hat sich aber längst daran gewöhnt. Sie steht in einer Ausbildung als Detailhandelsfachfrau und verkauft Schuhe bei einem Grossverteiler. Schuhe waren übrigens auch für Nicolas Edmé Rétif de la Brétonne interessant: Während er sekundäre Geschlechtsmerkmale nur rudimentär beschreibt, etwa von einer «zart beflaumten Muschel» fabuliert, ergeht er sich bei fein ziselierten, perlenbesetzten Schnürstiefelchen in Details. Edmé Rétif de la Brétonne ist zweifellos ein Schuhfetischist und nagelt die von ihm begehrten Frauen splitternackt, aber beschuht. Beschnürte Füsse machen ihn geil – die «zart beflaumte Muschel» nimmt er eher gelassen. Hinzu kommt, dass der literarische Vergleich hinkt. Muscheln verfügen über eine harte, kalte Schale, aber keineswegs doch über Flaum – höchstens ein wenig Moos, ab und zu.
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