Natürlich hatte ich eine Vorahnung, weshalb es heute zu dieser Verspätung kam. In der Mittagspause würde ich vielleicht mehr erfahren. Wir schafften es rechtzeitig. Um Punkt 7 Uhr 30 begrüßten wir Herrn Schneider, der die Sparkassenfiliale leitete. „Hurtig, hurtig, meine Lieben! Fräulein Meyer, ich brauche sie gleich für einen wichtigen Brief und sie werter Lehmann werden schon sehnlichst an ihrem Schalter erwartet!“ Hinter Herrn Schneiders Rücken warf ich Lotte einen frechen Blick zu, indem ich das linke Auge zusammenkniff. Sie erwiderte mein Blinzeln, ehe sie hinter ihrem Chef hertrottete. Wenn mich meine Augen nicht täuschten, strich Lottes Hand über die Sitzfläche ihres Rockes. Es konnte sein, dass sie nur den Sitz überprüfen wollte, aber mir kam es so vor, als wäre diese harmlose Geste einer anderen Ursache geschuldet. Als ich hinter meinem Bankschalter saß, musste ich immer wieder an Lotte denken. Ich kannte ihre Mutter nur flüchtig. Frau Meyers Mann war verschollen, nachdem er 1944 seinen letzten, äußerst kurzen Heimaturlaub antreten durfte. Danach musste er zurück an die Front, von der er nie wieder zurückkehrte. Damals musste Lotte um die 12 Jahre alt gewesen sein. Sie war das Nesthäkchen der Familie und als Lottes ältere Geschwister eigene Familien gründeten, blieb sie bei ihrer alleinerziehenden Mutter zurück. Mit mittlerweile 20 Jahren fehlte Lotte noch ein Jahr zur Volljährigkeit, was ihre heutigen Sitzbeschwerden erklären könnte. Zumindest gingen meine Gedanken in genau diese Richtung. Ein Kunde riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm seine Einzahlung entgegen, stempelte sein Sparbuch ab, nachdem ich den Betrag gutgeschrieben hatte. Es kamen noch etliche Ein und Auszahlungen hinzu, ehe ich endlich in die Mittagspause durfte. Lotte wartete schon in der Kantine auf mich. Sie saß an unserem üblichen Tisch, den wir heute ganz für uns alleine hatten.
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