Ein neuer Tag war angebrochen im Jahre des Herrn 1479, der 4. Mai um genau zu sein. Missmutig quälte sich der 27 Lenze zählende Lionardo di ser Piero aus dem Bett und schaute durch die kleinen, halbblinden Butzenscheiben seines Ateliers auf die Straße. Das Erste, was er sah, war seine Nachbarin, die dicke Francesa, die den Inhalt der Nachttöpfe, den ihre wahrhaft zahlreiche Brut in der Nacht produziert hatte, lästerlich fluchend einfach in den Rinnstein kippte. Das gab der ohnehin schon unschönen Melange von „Düften“ der Stadt noch mal ein ganz neues Gepräge, dabei sollte Stadtluft doch frei machen!
Dies hier empfand er eher nicht als Freiheit, auch nicht, dass noch eine Reihe von Portraitaufträgen auf ihn wartete. Lästige Pflichtübungen unter seiner Würde. Reiche Leute hatten Bilder ihrer Eherochen bei ihm bestellt. Er sollte Isabella d’Este malen und Pacifica Brandani. Ach, und Francesco del Giocondo wollte seine Angetraute auch noch schicken. Dabei interessierte er sich gar nicht für Portraits, hatte ganz andere Leidenschaften und Pläne. Aber so war das nun mal, das Malen der Weiber war sein „Brot- und Butter-Geschäft“. Es brachte jedes Mal eine Handvoll Florentiner Gulden, auch bekannt als Fiorino d'oro. Diese in seiner Stadt geprägten Goldgulden dienten als wichtige Handelsmünze in Europa und hatten derzeit immerhin einen Wert von sieben Florentiner Lira. Umgetauscht ergaben diese eine Menge schwach silberhaltiger Quattrinos und Denare, mit denen er sich wieder eine ganze Weile seiner wirklichen Leidenschaft widmen konnte.
Obwohl er sich bereits mit seinem Werk einen Namen gemacht hatte, fühlte Lionardo sich in der Portraitfotografie noch nicht zu Hause und beschloss, noch einmal anhand eines bezahlten Modells zu üben. Also stieg er in seine Hose und ein grobes Leinenhemd und machte sich auf in den Trubel der erwachenden Stadt. Nach einem kleinen Frühstück würde er sich nach einem geeigneten Modell umschauen. Er hatte da auch schon eine Idee …
Bald darauf hatte er sich in der Herberge drei Häuser weiter gesättigt. Er warf drei Denare auf den Tisch und trat zurück auf die Straße. Nach dem Halbdunkel in der Kaschemme war er fast geblendet von der Sonne, die inzwischen hoch am Himmel stand.
Er würde es in der ‚Via dei Magalotti‘ probieren. Da wohnte Marcella Esposito, Tochter eines Böttchers und vor allem große Schwester und Ersatzmutter für fünf kleinere Geschwister. Mit 21 eigentlich bereits im heiratsfähigen Alter, aber die Verehelichung verbot sich, bis auch die Kleinsten aus dem Gröbsten heraus waren.
Marcella
Die wahre Geschichte - Teil 6
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Marcella
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schreibt Amorelio