Zwei Wochen später, an einem Samstagnachmittag, stand er vor dem ehemaligen Nonnenheim, dieser Name gefiel ihm besser als „Maria Trost“, das jetzt Pension, Herberge, Exerzitienhaus oder was auch immer war, er würde es ja noch erfahren. Er solle, hatte ihm die dünne Stimme noch gesagt, sein Auto auf dem Parkplatz, etwa einen halben Kilometer vom Haus entfernt, abstellen. Wenn es sein müsse, könne er wegen des Gepäcks bis zum Haus fahren, aber dort gäbe es keine Möglichkeiten den Wagen länger abzustellen. Das Haus sah noch fast genauso aus, wie damals, wie er es in der Erinnerung hatte, allerdings war es jetzt hell verputzt. Auch der Weg war ihm sofort wieder vertraut, auch wenn er inzwischen asphaltiert, damals aber nur ein unbefestigter Waldweg war. Selbst das leicht beklemmende Gefühl stellte sich wieder ein, obwohl es heller Tag war, aber die hohen Bäume, die immer noch das Haus beschatteten, schafften eine düstere Atmosphäre. Dafür war der Blick zwischen den Bäumen hindurch in das Tal, zu dem Kloster und zu den weißen Kalkfelsen, die der Fluss freigelegt hatte, als er sich hier über Jahrmillionen hinweg eingegraben hatte, ganz bezaubernd. Er klingelte und als ihm eine Frau die Tür aufmachte, wusste er sofort, dass es die mit der dünnen Stimme war, noch ehe sie ein Wort gesprochen hatte. Sie sah aus, wie er sie sich vorgestellt hatte: undefinierbares Alter, sehr schlank, geradezu mager, dünnlippig, sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, eine Nickelbrille und das graue Haar war zu einem Dutt aufgesteckt, noch antiquierter hätte sie gar nicht aussehen können. Sie begrüßte ihn aber sehr freundlich, bat ihn in ihr kleines Büro, und nachdem er über die wichtigsten Abläufe instruiert worden war und ein paar Unterschriften geleistet hatte, ging sie mit ihm ein Stockwerk höher und zeigte ihm sein Zimmer. Ihren Mann, den Leiter des Hauses, würde er vor dem Abendessen kennenlernen, um diese Zeit sei er unterwegs, um Natur aufzutanken, wie sie sich ausdrückte. Er solle doch bitte pünktlich um 18.45 in seinem Büro erscheinen. Es wunderte ihn, dass sie nicht Viertel vor sieben gesagt hatte, vielleicht war sie pedantisch, das würde gut zu ihr passen. Das Zimmer war reichlich klein, in einem abgetrennten Teil waren eine Dusche, ein Waschbecken und die Toilette, alles recht eng und auch ansonsten war es sehr spartanisch eingerichtet: ein Bett, ein Tischchen, ein Stuhl und ein Schrank, weniger wäre kaum möglich gewesen. Etwas erstaunt war er nur über das Bild, das über dem Bett hing, ein seltsames Bild in dieser Umgebung. Es zeigte einen Stich, vielleicht von Dürer, er kannte es jedenfalls, sein Titel war "Susanna und die beiden Alten". Seltsam, weil es eine fast nackte Frau zeigte und das in einem Nonnenheim. Das Schönste an dem Zimmer war zweifellos der Blick von dem kleinen Balkon, den er schon kannte, als er vor dem Haus stand, der aber nun völlig unverstellt war. Der weite Blick in das Tal, hinüber zum Kloster und auch zum Bahnhof, zu seinem Bahnhof, und weiter zu den weißen Felsen, die den Ort umgaben und beschützen und seine Lage markant und berühmt gemacht hatten und die er früher, als er sie fast jeden Tag gesehen hatte, kaum schätzte und längst nicht so wunderbar fand, wie jetzt, viele Jahre später. Aber rasch kehrten seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück, in das enge Zimmer, zu dem Bett, das vermutlich zu enge und zu kurz war, für einen großen Mann, wie er. Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, wäre es doch besser gewesen, im Hotel Pelikan abzusteigen. Er erinnerte sich auch noch gut an den Pelikan, den er auch fast täglich gesehen hatte, damals galt es als ein sehr gutes Haus, vielleicht war es das immer noch. Aber nun gut, eine Woche würde er es auch hier aushalten, viel mehr als schlafen müsste er hier ja nicht und dabei würde ihn die Enge und Kargheit nicht weiter stören. Er war von Natur aus genügsam und konnte seine Ansprüche den jeweiligen Gegebenheiten gut anpassen.
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