Dann war es auch schon zwanzig vor sieben und somit Zeit in das Büro zu gehen, um den Heiler persönlich kennenzulernen. Er wollte ihn nicht gleich beim ersten Treffen wegen Unpünktlichkeit vergrätzen. Das Büro war groß und geschmackvoll eingerichtet, eine Kombination aus Büro- und Behandlungsraum, mit einem breiten Schreibtisch und vielen Büchern an den Wänden, aber auch mit einer dieser Untersuchungsliegen, die man von Arztpraxen her kennt. Der Mann selbst, der ihm freundlich die Hand schüttelte und ihn bat Platz zu nehmen, war eine durchaus sympathische Erscheinung. Anders als die seiner dünnstimmigen, dünnlippigen, etwas verhuscht wirkenden Frau, war seine Stimme volltönend, fast dröhnend, wenn er in Fahrt geriet und er sah auch deutlich besser aus, als sie. Ein Mann, so um die sechzig, groß gewachsen, mit einem gepflegten, kurzen Vollbart und einer weißen Mähne. Ein Mann, der vom ersten Moment der Begegnung an, eine seltsame, unbestimmte, aber deutliche Wirkung auf ihn ausübte. Ein Mann, dem er ohne nachzudenken vertrauen würde und das war vielleicht die wichtigste Voraussetzung, die ein Mensch braucht, der andere heilen will. Er hätte gut ein Mediziner oder ein Psychiater sein können, war aber, wie er später erfuhr, gelernter Großhandelskaufmann, der sich alles, was er nun in seinem neuen Beruf brauchte, selbst beigebracht hatte. Er erfuhr dann auch noch, dass weder der Heiler, noch das Haus in einer Beziehung zum Kloster standen. Der Träger war vielmehr eine esoterische Gesellschaft, die es vor Jahren gekauft hatte und dessen Vorsitzender war der Heiler selbst. Dies erklärte auch, dass im ganzen Haus keine christlichen Symbole, keine Kruzifixe oder Heiligenbilder zu finden waren, obwohl er dies eigentlich erwartet hatte. Aber als sie sich jetzt zum ersten Mal gegenübersaßen, wusste er nicht viel mehr als seinen Namen, denn das Gespräch war kurz und wenig informativ. Der Heiler, wie er ihn fortan nannte, wollte ein paar Gründe wissen, warum er hier war und was er hier erwarte. Aber als er anfangen wollte, alle seine Leiden im Detail aufzuzählen, winkte er ab und sagte, dass man sich um die Einzelheiten später kümmern werde. Der Heiler sprach, vielleicht war es nur eine Masche, von sich gerne in der dritten Person, vielleicht aber auch, um eine gewisse Distanz herzustellen oder eine Hierarchie aufzubauen, aber das machte ihn nicht unsympathisch. Sie verabredeten sich für eine erste, ausführliche Sitzung gleich am nächsten Morgen, dann gingen sie gemeinsam die Treppen hinauf, in das oberste Stockwerk, einen Lift gab es nicht. Im Speisesaal waren schon alle Teilnehmer des Kurses versammelt, es war ein gutes Dutzend Männer und Frauen im fortgeschrittenen Alter. Da die Kurse immer am Samstag begannen, kannten sich die Anwesenden noch nicht und so wurde eine kleine Vorstellungsrunde abgehalten. Aber niemand von den Anwesenden interessierte ihn besonders. Dann wurde das Essen von einer älteren, stämmigen Frau serviert, die Getränke standen schon bereit, Wasser und Säfte, was auch sonst, dachte er. Bei der Anmeldung hatte er nur sehr vage zur Kenntnis genommen hatte, dass es in dem Nonnenheim nur vegetarische Küche gab. Nach dem ersten Abendessen wusste er es aber sehr genau und er bekam Zweifel, ob er dieses Essen eine ganze Woche lang aushalten würde, obwohl es nicht schlecht geschmeckt hatte, aber Fleisch war nun mal Fleisch. Auch das Essen wäre ein weiterer Grund gewesen wäre, ein Zimmer im Pelikan zu buchen. Nach dem Essen blieben die meisten noch im Speisesaal, unterhielten sich, redeten über ihre Probleme, erläuterten die Gründe, warum sie gerade hierher gekommen waren. Er war nie sonderlich an den Problemen anderer interessiert, überhaupt war er eher ein zurückhaltender Mensch, der insbesondere nach seiner Scheidung gelernt hatte, ganz gut allein zurechtzukommen. Er wünschte schon bald eine gute Nacht, zog sich in sein karges Zimmer zurück und begann in einem der Bücher zu lesen, die er sicherheitshalber mitgebracht hatte. Die Nacht war wie immer, mit anderen Worten, er schlief schlecht und wenig und grübelte lange über den Sinn eines Aufenthalts in einer solchen Anstalt.
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