Das Abendessen im Pelikan entsprach durchaus seinen Erwartungen. Bevor er jedoch im Restaurant Platz genommen hatte, war er in die Kirche und zum Kloster und vor allem zum Bahnhof gegangen, um die alten Erinnerungen vor Ort aufzufrischen. Der Rotwein, ein süffiger Trollinger, den er zu dem Jägerbraten mit Klößen und Marktgemüse bestelle, war ausgezeichnet und er bereute seinen Entschluss keine Sekunde, nicht zuletzt wegen der netten Bedienung, die ihn jedes Mal freundlich anlächelte, wenn sie etwas brachte. Sie war sehr jung, mittelgroß und sehr schlank. Sie trug ein grünes Dirndl, das ihr zwar gut stand, aber viel zu groß für ihre schmale Gestalt war. Es verbarg alle weiblichen Proportionen, insbesondere das Mieder, das sonst die Blicke der Männer auf sich zu ziehen pflegte, war alles andere als ausgefüllt, eigentlich war von ihrem Busen nichts zu sehen, nur blütenweißer Stoff. Sie war sehr freundlich, wenn sich ihr Gesicht auch durch nichts Außergewöhnliches auszeichnete, es war ihre jugendliche, ländliche Frische, die den Charme ausmachte. Sie wechselten ein paar belanglose Worte, und als er zahlte, gab er ihr, wie es seine Gewohnheit war, ein ordentliches Trinkgeld. Vielleicht war das der Grund, dass sie bei der nächsten Begegnung, beim Mittagessen am folgenden Tag, den Gast besonders herzlich begrüßte und ihm erneut ihr schönstes, jugendliches Lächeln schenkte, ihn aber dann nicht weiter beachtete, da sie an einem anderen Tisch bediente.
In dieser Nacht schlief er zum ersten Mal seit lange ausgezeichnet, keine quälenden Träume, kein endloses wach liegen. Der Montag war wenig bemerkenswert. Am Vormittag gab die Frau des Heilers eine Einführung in Yoga und Meditation. Am Nachmittag brach die Gruppe zu ihrer zweiten gemeinsamen Sitzung auf. Diese fand mitten im Wald statt, wieder auf einer Lichtung, die von hohen, ebenmäßigen Fichten eingerahmt war. Wieder geschah nichts Bemerkenswertes. Am Abend ging er wieder in den Pelikan, aber die junge Bedienung beachtete ihn diesmal gar nicht, weil sie sehr beschäftigt war. Das Lokal war rappelvoll, wahrscheinlich war ein Bus mit Pilgern eingetroffen, die das Angenehme mit dem Nützlichen, das Weltliche mit dem Geistlichen verbinden wollten. Den restlichen Abend verbrachte er mit lesen, die Nacht war ruhig und erholsam.
Am Dienstag war sein zweiter Einzeltermin. Er war wieder sehr früh angesetzt und der Heiler bat ihn, ohne Umschweife, sich erneut auszuziehen und hinzulegen. Er tastete ihn wieder mit großer Konzentration ab, beschränkte sich aber diesmal auf Stellen, an denen Adern und Lymphknoten zu spüren waren und die er bei der ersten Untersuchung ausgelassen hatte. Zu seinem großen Erstaunen, wenn nicht gar Befremden, begann er sich dann intensiv mit seinem Penis und seinen Eiern zu beschäftigen. Die Eier schmerzten richtig unter seinem Zugriff und den Schwanz bearbeitete er auf eine so eindeutige und gezielte Weise, dass er sich zwangsläufig aufrichten musste. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es eine Art medizinische Untersuchung war, wenn er nicht das Gesicht des Heilers beobachtet hätte, das völlig konzentriert war, die Augen geschlossen, ohne den geringsten Ausdruck an Lustgefühlen, hätte er meinen können, ein Homo wolle es ihm besorgen. Aber bevor die Untersuchung richtig peinlich werden konnte, bevor sich eine Ejakulation anbahnte, beendete der Heiler seine Untersuchung und öffnete seien Augen wieder. Er könne sich vorstellen, begann er dann, dass dieser Versuch eine Erektion herbeizuführen, ziemlich peinlich für ihn gewesen sein musste. Vielleicht hätte man vorher etwas erklären sollen, aber dann hätte er sich mit Sicherheit verkrampft und die Untersuchung wäre viel schwieriger geworden. Aber entschuldigen wolle er sich auch nicht, es sei wie bei einem Arzt, der müsse auch alles machen, was notwendig ist, selbst wenn es peinlich wäre. Die gute Nachricht, so fuhr er fort, man wisse nun mit Sicherheit, was ihm fehlte und es sei nun auch völlig klar, was zu tun sei. Die schlechte Nachricht, eine Garantie auf einen Erfolg könne man nicht übernehmen, aber das sei auf solch komplexen Gebieten normal. Bei ihm liege eine Art Stau vor, wenn man so wolle, ein Stau der Sexualhormone, die zwar immer noch da seien, besser gesagt, die Organe, die sie produzierten seien intakt und er sei durchaus zu einer Erektion fähig. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte man gar nichts machen können, ihn nur der klassischen Medizin wieder überantworten müssen. Nun läge es weitgehend in seiner eigenen Hand, er könne selbst dafür sorgen, dass seine Lebensimpulse wieder in geordneten Bahnen fließen. Er müsse nur zulassen, dass die höheren Mächte, die hier, an diesem power place wirkten, Zugang zu ihm bekämen. Eine dieser Mächte sei die, die Leben spende, Frauen fruchtbar und Männer potent mache. Er kenne doch sicher den Gott Dionysos der Griechen, der sei eine Inkarnation dieser Kraft. Weniger bekannt sei hierzulande Rati, die hinduistische Göttin der Sexualität, eine sehr mächtige Gestalt im dortigen Reich der Götter. Diese Kraft müsse nun direkt und konzentriert auf ihn einwirken, nur sie können ihn von seinen Zwängen befreien, seine Ängste vertreiben und die Verkrampfungen seines Körpers auf Dauer lösen. Das könne er nicht, das könne auch die moderne Medizin nicht, denn deren Hilfsmittel, sei es Viagra oder Antidepressiva, würden nur kurzfristig und unzulänglich wirken. Wenn er Viagra nähme, würde sein Blut länger im Penis bliebe, ihn länger steif machen, es würde aber keine Libido auslösen. Doch diese käme wieder, wenn er sich dieser Liebesmacht an einem ganz speziellen magischen Ort, einem power place aussetzte, einem Hotspot, dem heißesten aller heißen Orte, wo eine Kulmination der Kräfte stattfände. Danach sei er ein anderer Mensch, vorausgesetzt alles liefe so ab, wie geplant. Dieser Ort sei eine Grotte, hier unter diesem Haus. Dort müsse er allein eine Stunde ausharren, mehr nicht. Er solle sich schon heute Nachmittag dorthin begeben, damit man an den restlichen Tagen seines Aufenthalts noch die Möglichkeit habe, ihn zu beobachten. Denn manchmal wirke die Kraft zu sehr und manchmal leider gar nicht. Auch die Götter seien wählerisch und trieben es nicht mit jedem, so seine etwas ironische Anmerkung.
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