Dann ermahnte ihn der Heiler, sich auf das Ungewöhnliche einzulassen. Wenn er sich innerlich sperre, sei die Heilung von vorneherein zum scheitern verurteilt, es sei wie beim Hypnotisieren, wenn das Opfer nicht wolle, gehe es einfach nicht. Nachdem er versicherte, er sei bereit, meinte der Heiler, er solle ihn ja nicht fragen, was dort unten geschehe und warum es eine solche Wirkung gäbe. Über diese Grotte sei dieses Haus vor vielen Jahren gebaut worden. Man erreiche sie nur über einen Gang und eine Treppe vom Keller aus. Es gäbe Aufzeichnungen, dass Menschen schon seit Urzeiten die Grotte besucht hätten. Sie seien gekommen, wenn sie sexuelle Probleme hatten, insbesondere wenn keine Kinder kamen. In diesen Berichten wurde vor allem Maria als Heilerin gepriesen, aber auch die Schwarze Sara, die Schutzheilige der Sinti und Roma. Gepriesen wurde immer dann, wenn sich der Erfolg eingestellt hatte, die erfolglosen Besuche wurden selten erwähnt. Er selbst sei kein religiöser Mensch und die Verehrung der Heiligen läge ihm fern, aber diese Mächte, diese Wunder, wenn man so wolle, die gäbe es sehr wohl. Wobei, er zögerte einen Moment, es eigentlich keine Wunder seien, die Mächte würden nur den Normalzustand wieder herstellen. Kurz und gut, er solle sich darauf einstellen, die Grotte gleich heute, am frühen Nachmittag aufzusuchen und dort eine Stunde in völliger Dunkelheit und Abgeschiedenheit verbringen. Er müsse allein dort sein, weil auch er, der Heiler, sich diesen Kräften nicht dauernd aussetzen dürfe, sie würden ihm dann mehr schaden als nützen. Er brauche aber keine Angst zu haben, ein einmaliger Besuch würde keine Schäden verursachen. Es sei wie bei einem Glas Sekt oder einem Cognac, in Maßen genossen würde Alkohol anregen, erst in großen Mengen träten die bekannten Probleme auf.
Das Mittagessen am Dienstag nahm er wieder im Hotel Pelikan ein. Die junge Bedienung erkannte ihn zwar, großzügige Trinkgelder wirken nun einmal nachhaltig, sie war aber für seinen Tisch nicht zuständig und so blieb es bei einem freundlichen Zunicken. Dann war es Zeit, in die geheimnisvolle Grotte zu gehen. Er hatte den restlichen Vormittag damit verbracht, sich auf diese seltsame Heilmethode vorzubereiten, hatte sich überlegt, ob es nicht doch besser sei, abzureisen und den Hokuspokus nicht weiter mitzumachen, aber die Tatsache, dass er sich deutlich besser fühlte, seit er hier war, überzeugte ihn letztlich, Was konnte schon passieren, was konnte schon schiefgehen, wenn man eine Stunde in einem dunklen Loch saß, bestenfalls oder schlimmstenfalls gar nichts. Pünktlich klopfte er an die Tür des Büros des Heilers. Er war nur mit einem Bademantel und Hausschuhen bekleidet, denn die Grotte müsse man nackt betreten, alle Kleidung vorher ablegen, so hatte der Heiler es ihm noch am Vormittag gesagt. Jetzt richtete er nur noch ein paar unverbindliche Worte an ihn, wollte wissen, ob er bereit sei und den Aufenthalt wirklich wolle. Dann nahm er einen schweren Kerzenleuchter aus Metall mit einer gelben Kerze, die deutlich nach Bienenwachs roch, und sie stiegen zusammen die Treppe hinab in den Keller des Hauses. Vor einer soliden Tür, die mit einem besonders soliden Vorhängeschloss gesichert war, blieben sie stehen. Der Heiler öffnete das Schloss, stieß dann die Tür auf und betätigte einen elektrischen Schalter. Schwache Glühlampen erhellten einen schmalen Gang, den sie nun betraten. An seinem Ende war er zu einem kleinen Raum erweitert worden, in dem sich nur ein Stuhl, ein Kleiderständer und eine weitere massive Tür, diesmal aber ohne Vorhängeschloss befanden. Von hier aus müsste er allein in die Grotte hinabsteigen, zum Kulminationspunkt, zum locus amoenus, also zu einem Ort der Freude und nicht des Grauens, so der Heiler. Auf der Kerze, er deutete mit dem Finger auf einen schwarzen Ring, seien Markierungen angebracht, wenn dieser Abschnitte abgebrannt sei, sei etwa eine Stunde vorbei, dann könne er die Grotte wieder verlassen und hier auf ihn warten. Dann betonte er noch einmal, er brauche keine Angst zu haben und wenn er den Aufenthalt vorzeitig abbräche, sei das zwar kein Problem, aber der Heileffekt sei fraglich. Dann drückte er ihm den Leuchter in die Hand und ließ ihn im Vorraum des Glücks, der Angst, der Hölle, des Himmels, was auch immer, allein zurück.
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