Maria wohnte noch nicht lange an der Seefeldstrasse. Sie hatte von allem Anfang an das Gefühl, dass sie nicht in dieses Mehrfamilienhaus passte – einmal abgesehen davon, dass die Seefeldstrasse 22 keiner einzigen Familie ein Dach über dem Kopf bot. Nur Rentner bewohnten die 70er-Jahr-Wohnungen, Männer, die das Leben gesehen und einst Kinder in die Welt gesetzt hatten, von denen sie nie mehr besucht wurden. Maria bewohnte eine Dreiraumwohnung, was sie als Luxus betrachtete. Als Warenhausverkäuferin verdiente sie nicht sonderlich viel, und die Miete warm von 500 Euro konnte sie sich nur leisten, weil einer ihrer Ex-Liebhaber sie aus freien Stücken unterstützte. Er mochte sie noch immer, der Uwe, und war mit der Trennung nie fertig geworden. Mittlerweile hatte er eine Neue und überwies Maria jeden Monat eine “schlechtes-Gewissen-Rate”, wie er das nannte. Noch ein einziges Mal hatte sie seither mit ihm geschlafen, in ihrer ehemaligen gemeinsamen Wohnung. Der Abend war ihr aber leer und trostlos vorgekommen; an den Wänden fehlten die Bilder, an die sie sich in all den Jahren gewöhnt hatte, und die afrikanische Göttin auf dem Beistelltisch war auch nicht mehr da. Jetzt sass sie auf dem Balkon und sinnierte vor sich hin. Das Leben war schon eigenartig. Da verkaufte sie den ganzen Tag über Switcher-T-Shirts sowie Damen- und Herrenunterwäsche an 20-30jährige, die etwas auf sich hielten... um dann den Abend in dieser Alterssiedlung zu verbringen, allein und vergessen. Dann entdeckte Maria den Apfelbaum. Er stand etwas abseits im Innenhof und war von einer nachträglich hinzugebauten Garage beinahe ganz verdeckt. Im Astwerk leuchtete es aber verführerisch rot; Maria vermutete Jonathan-Äpfel, eine Sorte, die in den letzten Jahren selten geworden war, sie aber an ihre Jugend erinnerte. Sie ging in die Küche, befreite einen Korb von leeren Plastikflaschen, legte sich ein Jäckchen um die Schultern und ging nach draussen.
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