Marie und das Waisenmädchen

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Marie und das Waisenmädchen

Marie und das Waisenmädchen

Andreas

Es kam ihr vor, als läge Berlin Jahre zurück. Dabei war gerade ein Monat vergangen, seitdem Maries und Doras gemeinsamer Besuch in der Hauptstadt zu Ende ging. Marie saß in ihrem Zimmer und grübelte. Sie fand, dass es Zeit wurde, auf eigenen Füßen zu stehen. Noch wohnte sie auf dem Landgut ihres Vaters, aber Marie suchte fieberhaft nach einer eigenen Wohnung. Dora befand sich in Bremen, wo sie nach ihrer Schwester schauen wollte. Iris ging es nicht so gut, seit ihr Mann bei einem Arbeitsunfall das Leben verlor. Dora empörte sich über die schlechten Bedingungen, unter denen die Hafenarbeiter ihrem trostlosen Tagwerk nachgingen. Dies war mit einer der Gründe, dass Dora sich in der SPD engagierte. Die anderen Parteien lenkten ihr Augenmerk auf das aufstrebende Bürgertum, wobei deren Politiker das Proletariat als störend empfanden. Dora ärgerte diese Ungerechtigkeit, die Menschen aus armen Familien die Chance auf Teilhabe verwehrten wollte. Nach Haralds Tod fiel Iris in eine tiefe Depression. Dora wollte ihrer jüngeren Schwester in dieser Notlage beistehen, von deren Existenz Marie erst durch das tragische Unglück erfahren hatte. Marie seufzte, während sie aus dem Fenster schaute. Die weite Landschaft ihrer ostpreußischen Heimat kam ihr plötzlich beengend vor. Marie dachte an die erotischen Abenteuer, die sie mit Dora zusammen in Berlin erlebt hatte. In den 20er Jahren des noch jungen Jahrhunderts brodelte es überall in der neu entstandenen Republik, wobei Städte wie Berlin dem Siedepunkt am nächsten waren. Das Kaisereich ging im Sog des verlorenen Krieges unter, wobei der wirbelnde Strudel etliche unschuldige Menschen mit in die Tiefe zog. Marie Juliane von Erlbach gehörte zu einer privilegierten Schicht, die dem drohenden Fiasko relativ unbeschadet entkam. Dennoch fühlte die junge Frau sich unwohl, als säße sie in einem goldenen Käfig fest.

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