Nachdem sie das Hemd übergezogen hatte, kamen die seidenen Strümpfe an die Reihe. Marie setzte sich auf einen Stuhl, um sie bequemer aufrollen zu können. Sie wurden, zwischen Knien und Oberschenkeln, mit einem verrucht wirkenden, schwarzen Band befestigt. Marie war so aufgeregt, als sie ihr nagelneues Kleid vor sich hielt. Mit pochendem Herzen stieg sie hinein. Der Hausschneider ihrer Eltern hatte es eigens für sie angefertigt. Mama war nicht begeistert, empörte sich; es bedecke nur knapp Maries Knie. Die raffinierten Falten im Rockbereich missfielen ihr, auch der großzügige Ausschnitt. Der Traum aus nachtblauem Chiffon drohte zu platzen. Marie brauchte all ihre Überredungskunst um die konservative Dame umzustimmen. Sie versprach der Mama, dass sie niemals ihre dunkelbraunen Locken abschneiden ließ, wie diese inakzeptablen Flapper Girls mit ihren Bob Frisuren!
Schließlich bezahlte Frau von Erlbach den Schneider und Marie bekam ihr schickes Kleid.
Das optimale Schuhwerk für ihren Ausflug hatte Marie schnell parat. Farblich abgestimmte Spangenschuhe mit nicht allzu hohen Absätzen waren die beste Wahl. Jetzt musste sie nur noch warten, bis alle im Haus friedlich schliefen. Es war bereits kurz nach zehn Uhr. Bald würde der Zeitpunkt da sein! Marie strich sich nervös durchs Haar, blies eine rebellische Locke aus der Stirn. Ihr Mantel hing wartend an der Garderobe. Sie ging leise zur Zimmertür, öffnete sie einen Spalt, spähte hinaus. Es war alles dunkel, kein Laut zu hören. Marie ließ die Türe angelehnt, riss den Mantel vom Haken. Schnell stopfte sie noch ihre Haarbürste in die Umhängetasche, dann witschte sie aus dem Raum. Ganz vorsichtig, auf Zehenspitzen, schlich sie den finsteren Gang entlang. Unbemerkt passierte sie das Zimmer der Gouvernante, unter dem Türspalt schien schwaches Licht hervor. Endlich hatte sie die Treppe erreicht. Vorsichtig, einen Fuß vor den andern setzend, ging sie hinab. Zu ihrem Glück begegnete sie auch unten keiner Menschenseele. Die Haustür war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Sie hielt den schweren Schlüssel in der zitternden Hand. Behutsam, um ja kein Geräusch zu machen, steckte sie ihn in das Schloss. Sie drehte den Schlüssel, der mit einem schwachen Klack die Tür entriegelte. Marie glitt ins Freie. Eilig sperrte sie die Haustür wieder ab. Dann verschluckte sie die Stille der Nacht. Als das Haus ihrer Eltern nur noch als verschwommene Silhouette zu erkennen war, begann sie zu laufen. Sie rannte so schnell sie konnte, immer geradeaus. Sie blickte nicht zurück, eine prickelnde Nacht lag vor ihr. Dann endlich, ihre Seite schmerzte bereits, sah sie ihn! Ja, es war Fritz, der da rauchend am Rand des kleinen Wäldchens auf sie wartete.
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